Chronologie eines Montagmorgens

07:30 Uhr: Ich unterbreche mein Buch und muss aufschreiben, dass ich eine fast panische Angst davor habe, dass bei all den wunderschönen Erlebnissen in diesem noch jungen Jahr eine kleine Katastrophe auf mich zusteuert, quasi als Ausglech, dass es mir nicht zu gut gehen soll, dass ich Demut zeigen soll und die wirklich wichtigen Dinge im Leben mehr schätzen sollte, alles, nur nicht zu sehr Ich-Bezogen, keine Zentriertheit auf die Person seiner selbst, aber das mache ich doch gar nicht, es ist ein Gefühl wie eine allumfassende Einschränkung einer glücklichen Einbahnstraße, an deren Ende die schwarze Aura einer schmerzlichen Mauer auf mich wartet. Aber welcher Gedanke hat mir diese Worte in den Mund gelegt? Ein zittriges Gefühl breitet sich beinahe lähmend in meinem zerbrechlich-anmutenden Körper aus, ein Strom der Unsicherheit, der mich mit einem ungemütlichen Unbehagen hier sitzen lässt, auf der morgendlichen Zugfahrt, während ich mir zu sehr wünsche, so wie jeden Morgen in meinem Buch versinken zu können, Gedanken ausblenden zu können, zumindest frei entscheiden zu können worüber es sich zu nachdenken lohnt, Inspiration zu sammeln und mit einem erfüllten Gefühl die kalten Windzüge beim Aussteigen in den Arm zu nehmen. Jetzt hält der Zug an. Eine technische Störung hilft nicht wirklich dabei, optimistisch auf die weitere Fahrt zu schauen.

07:42 Uhr: Der Zug kann nicht weiterfahren. Er lässt uns am nächsten Bahnhof heraus. Die Fahrt endet hier.

07:48 Uhr: Wir werden in einen anderen Zug gelotst, der unverzüglich losfährt. Ich sitze neben einem allzu breiten Mann mittleren Alters, als sich die Sonne am Horizont auftut, inmitten der gewaltigen Wolkendecke, und ein paar heiße, elegante Sonnenstrahlen werden auf die vorbeirauschenden Gebäude, Bäume, Straßen und Menschen geworfen. Vielleicht ist mein Unbehagen völlig unbegründet. Vielleicht aber auch nicht.

08:30 Uhr: Der Sonnenaufgang ist verflogen, alles ist in ein müffiges Grau getaucht. Die Straßenbahn hält an. Ich bin in meinen Gedanken vertieft, als der Fahrer aussteigt, auf mich zukommt und mir mitteilt, dass ich aussteigen muss. Ein technisches Problem, er könne nur 30 fahren. Ich wollte noch anmerken, dass es manchmal gar nicht so schlecht ist, nicht mit voller Geschwindigkeit zu fahren, doch er wirkte sehr bestimmt und er müsse sich darum nun kümmern. Erst jetzt sehe ich, dass ich der Letzte in der Straßenbahn bin. Vielleicht ist alles noch viel schlimmer, als das innere Gefühl, das ich nun noch schwerer loskriegen werde, zugeben möchte.

8:52 Uhr: In der nächsten Straßenbahn treffe ich auf ein paar bekannte Gesichter aus der vorigen Fahrt. Sie müssen eher ausgestiegen sein als ich. So als hätten sie noch rechtzeitig den Absprung geschafft.

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Text & Foto (c) Jim Kopf

 

16 Kommentare

  1. Ob sie den Absprung eher geschafft haben oder nicht… ihr seid wieder an derselben Stelle – wie bei diesen Bekloppten, die einen mit viel zu hoher Geschwindigkeit risikoreich überholen und an der nächsten Ampel dann genau vor einem stehen. 😉

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    1. Freut mich sehr dass dir das Bild gefällt, von dir höre ich das natürlich besonders gerne 🙂
      Nein, du hast schon recht, das war ein fast schon beängstigendes Gefühl dass mich durch den Montagmorgen begleitete, das ich einfach aufschreiben musste.

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    1. Ganz lieben Dank Sigrid, ich bin entzückt dass dieser Kontrast gut bei dir ankommt, wenngleich die Rose schon sehr verwelkt ist und in den Sonnenstrahlen die vermeintlich vorerst letzten glücklichen Momente genießt, während ihr verzerrtes Spiegelbild vielleicht schon einen Schritt weiter ist, das Bild ließ sich irgendwie symptomatisch auf meine Befindsamkeit an diesem Morgen übertragen.

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