Der alte Mann und ich

Ein grauer Dienstagmorgen legt sich über die Stadt, das Dunkelblau ist verschwunden, das eben noch den Anblick durch das dünne Zugfenster bestimmte, so wahrlich bläulich habe ich den Kontrast zur gelbweißen Innenbeleuchtung noch nie wahrgenommen, es war als hätte eine unbändige Macht die Landschaft mit einem Eimer blauer Grundtöne überschüttet, mit Schwarz und Weiß dunklere und hellere Konturen und Schatten gezeichnet, doch alles gesättigt, lebhaft auf einer ruhigen, bedrückenden Ebene, dieses Blau das mir in die Augen sah war mehr als die Realität, mehr als normal, mehr als ich es je empfunden habe. Ich fühlte mich entfernt von allen Menschen, die neben mir und vor mir und hinter mir saßen, ich hatte keinen Blick für sie übrig, nur das Blau zauberte einen dreidimensionalen Raum herbei, in dem ich mich befand, außerhalb der Situation, die gewöhnlicher nicht sein könnte, doch nicht jetzt, ich stand wie eine leichte Wolke über der Bahn, eingenommen von dem Bewusstsein schweigender Blautöne, die innerlich zerrissen zwischen Bedächtigkeit und Gelassenheit und einer bedrohlichen Schwere, bleiern und beklemmend, eine Atmosphäre konstruierten, die mich in den Zeilen meines Buches und in den wuchtigen Tastenklängen großer Pianisten auf meinen Kopfhörern verschwinden ließ, umfassend eingenommen las ich dreißig Seiten, lauschte dem sechzehnminütigen Klavierstück, roch heißen Kaffee in Pappbechern, und das alles unter einer unwahrscheinlich blauen Parade der Farbe in der enteilenden Landschaft im Augenwinkel.

Jetzt aber ist das Übernatürliche ausgelöscht, nur kleine Flecken sind am Himmel zurückgeblieben, so als hätte man dem Blau zuviel Wasser beigemischt, wässrig und aufgelöst flieht es hinter die graue Wolkendecke. Zwanzig Minuten bis die erste Vorlesung beginnt, ich bin früh dran heute. Kaufe mir wiederholt ein knuspriges Käsebrötchen, nur damit die anschließende Zigarette besser schmeckt. Laufe um eine alte, gewaltige Kirche herum, lande auf einem leeren Platz, auf dem nicht einmal eine Taube sich verirrt hat. Fünf leere, nasse Bänke stehen zwischen künstlich gepflanzten Birken, ich dazwischen, an einer erloschenen Laterne lehnend. Ich rauche, lasse den Blick schweifen, sehe einen alten Mann, der auf und ab läuft, schräg hinter mir, im Schatten der Kirche, bleibt er stehen und schaut gedankenlos in unbestimmte Richtungen.

Gedankenlos? Bin ich mir sicher? Es durchzuckt mich. Erst leicht, schwach, dann intensiver, spürbarer, jetzt fiebrig und durchgreifend. Ich will es wissen. Ich will wissen was er denkt. Die Gedankenwelt eines geschätzt fünfundachtzigjährigen Rentners, sie ist mir so fern wie nichts, an das ich sonst denke. Einmal schrieb ich in ein Gedicht in mein Notizbuch über eine alte Frau mit weißen Haaren, die alleine und ausdruckslos an einem Tisch in einem Café saß, in dem auch ich mich befand, um zu lernen, um alleine zu sein, um zu trinken. Während mir tausende Gedanken durch den Kopf gingen, ahnte ich nicht im Entferntesten, worüber sie nachdachte. Ihr starrer Blick durch die Fensterfassade, ohne Emotionen, die ich deuten konnte, scheiße, woran dachte sie, das Gedicht war scheiße, nur Vermutungen, die banaler nicht sein konnten. Es blieb dabei, sie verließ die Situation und ich war so schlau wie vorher, als hätte es sie gar nicht gegeben.

Jetzt ist es anders. Das sollte mir nicht noch einmal passieren, auch wenn meine Gedanken in den letzten Zügen am glühenden Glimmstängel um Verhaltensweisen kreisten, die das Ansprechen eines fremden Rentners durch einen jungen Burschen untersagten, vor allem mit einer Frage, die in mir brannte, die für viele vielleicht lächerlich erscheint, doch das war ein Abgrund vor mir, in den ich nicht fallen wollte, nein, ich musste es wissen, warum er hier so verloren stand und worüber er nachdachte.

Ich schmeiße die Kippe auf den Boden, zertrete den grauen Rauch, denke mir, verdammt, er hat es gesehen, er denkt bestimmt ich sei ein verzogener junger Mann, doch es ist zu spät, meine Beine tragen mich bereits auf ihn zu, wie er da steht, festgefahren, still und statisch, ich werfe den Blick verlegen nach links und rechts ohne etwas wahrzunehmen, bis ich ihm zwei Meter entfernt ein möglichst freundliches Entschuldigung vor das zerbrechliche Antlitz schnippe, ein minimales Lächeln, ja er lächelt, sagt nichts, nun stehe ich vor ihm, ich frage, darf ich sie was fragen, er nickt und sagt selbstverständlich, ich grinse und bin überrascht über dieses sanfte Entgegenkommen, ich sage, ich weiß das ist vielleicht ein wenig überraschend, aber ich würde zu gerne wissen, woran sie denken, sie stehen hier, ich stand da vorne, wir beide stehen hier und beobachten und ich dachte mir, ich möchte unbedingt wissen, woran sie denken, wieso sie hier so beobachtend stehen, also meine Frage ist, woran denken sie, während sie hier stehen?

„An nichts. Ich warte auf meine Frau, sie ist beim Arzt. Dort drüben. Was soll man auch machen, als hier zu stehen, ich mein, was soll man bei ’nem scheiß Arztbesuch seiner Frau auch anderes machen, nicht wahr?“ Mit zutiefst freundlichen Augen schaut er mich an und lacht.

Ich lache auch, ehrlich, mit Gänsehaut, bedanke mich, wünsche einen schönen Tag, drehe um und laufe zur Uni.

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Was er wohl denkt… – Fotografiert von Markus (kuhnographphotography.wordpress.com)

 

11 Kommentare

    1. Ach krass, dadurch habe ich erst gesehen, dass der erste Abschnitt nur aus zwei Sätzen besteht, nun, manchmal können die Gedanken keinen Punkt gebrauchen.. Ganz liebes Dankeschön, Summer 🙂
      Hui, das wird schwer 😀 In 3 Wochen stehen sie an, vielleicht verweile ich einfach ein wenig auf Twitter um zu lernen, mich kurz zu fassen 😀

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  1. Wo fang ich an? Bei dem Satz „nur damit die anschließende Zigarette besser schmeckt“? Kenn ich zu gut und musste lachen 😉 oder „er denkt bestimmt ich sei ein verzogener (junger) Mann“? Kenn ich noch besser. Wohne in einem 4 Familienhaus zwischen lauter Rentnern und ohne Balkon – da muss schon mal der Gemeinschaftsgarten herhalten 😉 Wo mach ich weiter? Bei meinem Foto? Vielen Dank, wieder mal ehrt es mich das Foto unter einem Deiner genialen Texte zu sehen… Den Inhalt des Textes? Deine gedanken und der Wille ihnen zu folgen? Grandios! Das ist leben! Nicht viel überlegen sondern Taten folgen lassen…. Respekt, mal wieder!!

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    1. Wie kann man nur so coole Kommentare schreiben? Ich feier dich und kann ebenfalls nur einmal mehr sagen, Danke Markus !! Und sehr cool, dass ich mit den Inhalten auch deinen Nerv getroffen habe 🙂

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