Ein Ort in Echtzeit

Ich sitze in einem schön hergerichteten Park unweit des Zentrums von Dublin, sorgfältig begossene Blumen in roten und rosaroten Farben umgeben von kleinen Sträuchern, bei denen man das Gefühl hat, sie wären zu klein, zumindest in dem Maße, dass sie künstlich wirken, und betrachte die Großstadt als das, was sie ist: Ein Ort voller Menschen. Die Naivität, in einer fremden Stadt von einer seelenfriedlichen Ruhe übergossen zu werden, rührte wohl von dem Charakter des Fliegens, über die Grenzen des Landes hinweg, die Ferne als Ziel für den Körper, vielmehr noch für den sich unablässig fortsehnenden Geist, denn das Innere, erdrückt von der Allgegenwärtigkeit des Sinn- und Wertlosen, wünscht sich doch nur die frische Meerluft, das Hoch- und Niederwerfen der Brandung und das einsame Betrachten eines für mehr als nur die Augen harmonischen Anblicks, das Meer, der Sand, die Steine, die Pflanzen, die Gerade des Horizonts, all das sich mir fernab der Stadt, an einem einsam gelegenen Küstenabschnitt, einen ganzen Abend lang offenbaren konnte. Ungeachtet der vielen Menschen auf den Straßen, in den Läden und selbst im Park – wo Touristen Dinge fotografieren, von denen sie nichtmal wissen, was es für sie selbst sein soll; so ist das Bild der Botanik nur ein Bild der Botanik, etwas Konstruiertes, nicht mehr als ein Urlaubsbild, eine Erinnerung an den schönen, aber aus nichts weiterem bestehenden Anblick, den sie ihren Verwandten und noch Jahre später auch sich selbst zeigen können, voller Stolz, dort war ich, dort stand ich und dort habe ich fotografiert, ein Gesamtbild, in dem alles unter der Haut des Oberflächlichen, das Individuelle, Kleine, wirklich Berührende des Ortes, verloren geht, schlichtweg weil es leer und unachtsam fotografiert und erlebt wurde – fühle ich mich wohl in meinem Körper; nach einiger Bedenkzeit erschloss sich mir der Grund dafür, es sind ihre Augen, zum Teil leer, zum Teil für so viel interessiert, dass die Wertung aus ihrem Leuchten entschwindet, mit dem sie ihren Blick schweifen lassen, was mehr als angenehm ist, denn so kann ich hier sitzen und eine Freiheit in meinem Denken verspüren, das keinerlei störende Wertungen in den Augenpaaren platziert, die mein Antlitz und die Art streifen, wie ich auf der Holzbank sitze, alleine, diese Zeilen ins Smartphone tippend, mit sanften Klaviertönen in den schwarzroten Kopfhörern, unglaublich weit entfernt von ihrem zu sehr gewollten Auftreten, etwas Neues zu entdecken. Letztendlich reißen sie sich selbst damit aus der Chance, eine intensivere Erfahrung mit dem Neuen und halbgar Unbekannten machen zu können, zumindest eine solche, die mich so sehr berührt, die mir die Augen feucht werden lässt, die Knospe im Inneren der purpurroten, zart aufbrechenden Pflanzenblätter, das ehrliche Lächeln und die dabei maßlos zufrieden und glücklich einfallenden Grübchen im Mundwinkel der beiden sich Liebenden auf einem der vielen harten Holzbänke, der verrührte Duft des blaugrünen, von strahlend weißen Gänsen durchquerten Teichwassers und der kalten Süße des Eiswagens, das Gras, die Wolken, die melodisch komponierten Töne drüben aus der Stadt; trampelnde Touristen, gitarrenzupfende Straßenmusiker, aus Pubs dröhnende Livemusik, ausgelassen feiernde Jugendliche, Kleinkinder, die mit offenen Augen die Faszination dieses neuen Ortes anrempeln, bedächtig vorschreitende Senioren und die ausgelösten Knöpfe ihrer Digitalkameras – bei niemandem habe ich mehr den Eindruck, sie würden, meist infolge des Hinweises der Touristenführerin, dass sie sich vor einer Sehenswürdigkeit befänden, fast schmerzlich leer fotografieren; vielleicht nur eine Vermutung, aber eine, die mich mit der Angst erfüllt, eines Tages in der selben Situation zu stagnieren, unwissend, dass ich mich in ihr befinde -, Mütter und Väter in dem Element, ihre Aufmerksamkeit den Kindern und gleichsam der Umgebung zu widmen, und natürlich die Stille der Alleinreisenden unter den massig auftretenden und über alles thronenden Möwen der Küstenstadt. Dazu die Geräusche, die in den Dingen liegen, wie etwa das Brausen der hellbraunen Schaumkrone auf den zahlreich ausgeschenkten Schwarzbieren, das klare Knacken in der Holztheke, wenn ein Glas darüber rutscht, oder auch das aufgeregte Klatschen der Bustüren, wenn sie zufallen, knapp über der Straße herrauschen, sich wieder öffnen und so dem Touristentum seine Wünsche näherbringt als mir das jemals gelingen könnte. Meine Bestimmung dagegen liegt außerhalb all dem; irgendwo im Nebel der Gewohnheit verborgen, die mir stets den Blick erschwert, weil alles, das ich täglich in der unachtsamen Gewohnheit sehe, etwas ist, das unwirklicher nicht sein kann, und so zwinge ich mich in das beobachtende Genießen, ähnlich einer Suche, das den Nebel durchdringen und eine Verbindung mit dem Wahren, Echten, Wirklichen, sprich, der Echtzeit, aufbauen soll, was mir überall dort weit mehr gelingt, wo ich mich nur für kurze Zeit befinde, so wie hier in Dublin, ob an seiner Küste, im Park oder im Pub, aus dem Gefühl, die Perspektive auf das Leben sei in meiner Heimat hinter Gitterstäben gefangen, unfähig, das Metallene gedanklich zu umkurven und somit darauf beschränkt, nur die Härte des Unveränderlichen, gleichwohl Nichtgewollten – eine Einstellung, die sich über Jahre hinweg manifestiert hat – zu sehen, graue Straßen, graue Häuser, graue Menschen; am deutlichsten erscheint mir der Gedanke an eine Wiese, zuhause nur eine Wiese, ein Begriff, etwas Leeres, Unbedeutendes, während mir überall nur woanders bewusst wird, aus wie vielen einzigartigen, kleinen, grünen, zärtlichen, anmutigen Halmen sie besteht. Wenig verwunderlich also, dass mich die Vorstellung erfüllt, aus der Gewohnheit auszureißen, nicht für ein paar Tage, nicht für den Moment, nicht für die unwirkliche Sekunde, die der Kurztrip nach Dublin letztendlich, sprich ab dem Tag meiner Rückkehr, in meinem Leben einnimmt, sondern für einen unbestimmten Zeitraum: Ein Ort, an dem sich die Sekunden unendlich wirklich aneinanderreihen. Ein Ort in Echtzeit.

33 Kommentare

      1. erst nur jobben nach dem Studium, dann ist er geblieben wie die meisten. Das Durchschnittsalter in D ist 37 Jahre, glaube ich mich zu erinnern!

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  1. Wunderschöne Gedanken die man nur sacken lassen und genießen kann… vor allem dann, wenn sie einen an eine ähnliche Reise erinnern. 😉 In dem Fall, meine Reise damals nach Thailand. 2010/2011. Da hab ich genau ziemlich genau das gemacht(?), was du grad gemacht hast… ich bin an den unterschiedlichsten Orten gesessen und hab den Gedanken einfach freien Lauf gelassen. Sie fließen lassen. Und einfach niedergeschrieben. Was auch immer da raus wollte aus meinem Hirn und meinem Herz. Das, was ich so gerne als „sein“ bezeichne. Dasitzen dürfen und nichts reden müssen. Beobachten dürfen und alles hochkommen lassen, was hochkommen lassen möchte. Gedanken als auch Gefühle. Emotionen jeglicher Art…
    Langsam glaube ich, dass das auch einer der Gründe ist warum ich das Gefühl habe, nichts mehr schreiben zu können. Weil ich genau das, dieses „sein“ seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht habe. Sondern stattdessen – und so war es auch zu einem kleinen Bruchteil wie ich heuer in Irland war, drum musste ich über deine Touri-Fotobeschreibung ziemlich grinsen – manchmal wie eine Besessene auf der Suche nach Neuem mit der Kamera durch die Gegend renne. Anstatt mich einfach mal rauszunehmen aus all dem was mein Leben grad dominiert. Mir die Zeit zunehmen, einfach irgendwo zu sitzen und zu genießen. Die Nikon mal sein zu lassen. Das hätte ich damals in Irland auch unter Tags einmal tun sollen. 100 Bilder weniger machen wenn ich das Gefühl hab, dass eh nix geht und dafür allein ein paar Zeilen für mich schreiben. Dann wenn die Worte herauswollen und nicht krampfhaft im nachhinein danach suchen. Das hätte mich rückblickend betrachtet wesentlich mehr entspannt und glücklicher gemacht stell ich grad fest. Nicht nur in Irland.
    DANKE fürs Wachrütteln lieber Jim! 🙂

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    1. Dankeschön Nina! 🙂
      Wie du diese Momente deiner Reise beschreibst empfinde ich als unglaublich bereichernd, und wie du sagst, da waren Gefühle und Gedanken am Werk, die man so furchtbar schwierig greifen kann, insbesondere im Alltag.
      Wie Markus schon sagt, und wie ich glaube, dass es am Besten ist, wenn man festhält UND knipst, und nicht nur knipst, so wie ich das bei vielen das Gefühl habe… bei dir aber definitiv nicht, dafür sind deine Bilder zu intim, und dafür steckt in ihnen viel zu viel von diesem Festhalten drin!
      Aber gerne, das freut mich sehr! :-*

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      1. Danke lieber Jim für die wunderschönen Worte zu meinen Fotos. Es freut mich immer wieder aufs Neue zu lesen, dass sie so tief rein gehen. 🙂 Und ja, den Moment vorsichtig einfangen und festhalten… 🙂
        Zu der Thailand-Reise gibt’s wie versprochen auf anderem Wege noch ein paar ausführliche Worte. 😉

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  2. Die Fotografiererer der Touris habe ich noch nie verstanden, anstatt den Moment zu geniessen, die Eindruecke zu verinnerlichen, herumzuknipsen. Du hast die Stimmung von St.Stephen’s Green sehr gut eingefangen….

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  3. Du hast mein Herz erfüllt…mit Eindrücken, Gedanken, Echtheit….WOw….du hast so eine große Gabe Dinge zu sehen und im hier und jetzt zu sein….Etwas zu bemerken, vieles aufzunehmen ….Jim….Mega! Bin absolut begeistert und ich kenne es, sich mal wie diese Touris zu fühlen und das ist im Nachhinein nicht so erfüllend wie man gerade vorher dachte…und ich kenne es sich hinzusetzen und die Welt wie ein Zeitraffer vorbei ziehen zu lassen…deine Zeitraffer sind einerseits erschreckend, weil so viele sinnlos herum zu Irren scheinen und andererseits total toll, weil eben kein Stillstand ist ;)…hoffe das war verständlich….liebe Grüße

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    1. Oh gott, das ist so lieb von dir, und das freut mich so verdammt sehr, gerade weil mir dieser Text auch so am Herzen liegt! DANKE Anny!
      Und ja, das war verständlich und führt die Gedanken genau so weiter, wie auch ich die Momente aufgreife 🙂

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  4. Wunderbar Jim…. Toller Text, tolle Worte und soviel Sinn!! Sich rausnehmen. durchatmen. Dinge die mir so fehlen. Aber ich habe einen Plan 😉 Und dann soll auch das wieder in meinem Leben stattfinden. Beobachtungen, Entschleunigung… Und genießen (nicht nur durch den Sucher ;-)) Auch wenn die Fotografie mit dem Reisen in mir fest verbunden sind, es geht ums festhalten, nicht ums knipsen… Schöner Anstoß für nen Montag Morgen, vielen Dank!!!!

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    1. Ich freue mich immer wieder über deine Worte, DANKE!
      Und ich kanns kaum erwarten, zu erfahren, wohin es dich verschlägt, die Richtung, den Ort, all das, was dich hoffentlich erfüllen wird 🙂
      uuuund das hast du perfekt formuliert: Es geht ums festhalten, nicht ums knipsen. Wenn man beides miteinander kombinieren kann, ist es vermutlich am besten…
      Ich habe dir zu danken!

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      1. Ich kann immer wieder nur sagen „gern geschehen, hast Dir jedes positive Wort mehr als verdient“! Wir werden sehen, ich bin gespannt was die kommenden Wochen noch so bringen 😉 Und Du bitte einfach weitergehen, auch wenn ich galube das Du Deinen endgültigen Weg auc noch nicht gefunden hast?! 😉

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      2. Mein vorerst endgültiger Weg liegt wie ein prächtiger Regenbogen direkt vor meinen Füßen, allerdings kann ich ihn erst betreten, wenn die Pflicht getan ist, sprich, das duale Studium erfolgreich abgeschlossen ist. Bis dahin mach ich einfach so weiter 🙂

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      3. Ich persönlich find den Plan scheisse, weil das noch fast 2 Jahre dauert ihn zu realisieren… aber Hey, man muss das beste draus machen 🙂

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  5. Wirklich tolle Worte. Die da ankommen wo sie sollen. Im Herzal. Und so wahr! Du hast es so wundervoll beschrieben, auf,- und zusammengefasst. Ich mag das. Ich mag deine Sicht der Dinge total, und das dann verpackt in deinen Worten, deinem Stil, macht es zu etwas ganz besonderem. Vielen Dank dafür! 🙂

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  6. was du über das touristische fotografieren schreibst kann ich sehr gut nachvollziehen. ich höre immer mehr und mehr auf, dinge zu fotografieren, nur weil ein reiseführer sie für sehenswert tituliert. ich fotografiere sie nur dann, wenn ich etwas dabei empfinde und versuche auch das wie in den bildern und in die bearbeitung einfließen zu lassen. manchmal ist es schwer sich zu lösen und manchmal frage ich mich, warum hast du davon kein bild gemacht, aber die antwort ist immer, weil ich nichts empfunden habe als ich davor stand.

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    1. Genau das meine ich! Eine Empfindung ist viel mehr wert als ein „leer“ fotografiertes Andenken an ein besuchtes Wahrzeichen. Schön, dass du dir diese Art des Fotografierens bewusst ist; es verwundert mich aber nicht wirklich bei deinen fantastischen Bildern 🙂

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