Mach die Augen auf, alter

Guck mich an. Guck nicht ihn an, der auch auf sein Smartphone schaut. Guck mich an oder sie an oder den alten Mann an, der gelborangene Sonnenstrahlen in seinem warmen Blick hat, seine Augen, ein feuchter Grünton, guck den Baum an, der für eine Milisekunde an deinem Blickfeld vorbeirauscht, so unscharf aber so strahlend grün und diese Tannennadeln, die nach Weihnachten duften. Guck hoch verdammt, ist das dein Ernst, du schaust immer noch so gebannt auf dein Smartphone als würde es dir die Lottozahlen verraten, guck hoch und schau auf den dreckigen Kaffeestreifen, der sich horizontal verschmiert auf der Rückseite der blutorangeroten Winterjacke des kurzbärtigen Hipsters neben dir befindet, die Tauben!, sie picken und knabbern auf dem Boden und nehmen all diese verschiedenen Grundtöne wahr, dieses rauchgraue und zinkgraue und alaskaweiße und schimmelweiße und dieses meerschweinchengefleckte Schlachtfeld voller platter Kaugummis, alle manhattengrau und beschattet durch die Konturen der laufenden und stehenden und sitzenden Menschen um dich herum, die du nicht wahrnimmst, aber doch, da ist noch was, glaub es mir oder glaub es mir nicht, außerhalb von dem Fokus deines gebannten Blickes im 67 Grad – Winkel auf dein Smartphone, halt mich für verrückt, du Paradiesvogel mit deiner blauen Anzugshose und schwarzem Jackett, das trägt man nicht, ich würde es wollen, wenn du es wenigstens bewusst gemacht hättest um dem eingebürgerten Trend entgegenzuwirken, aber du hast schon bei der Anprobe mehr auf das Flackern und Flimmern auf deinem verdammten Smartphone geachtet. Ich sag dir noch einmal, guck hoch und ey, siehst du die blonde Schönheit dir schräg gegenüber, hast du nicht mitbekommen wie lange der Typ neben ihr das Handy ungesperrt in seiner sonnenbankgebräunten Handfläche hielt um ihr zu zeigen, was gute Musik ist, damit sie es sieht, den Titel und den Künstler, der gerade in seinen Kopfhörern hämmert und schlagzeugt und Gitarrenriffs vom Feinsten gibt, und er denkt sich, wenn sie es sehen würde, wenn sie den gleichen Musikgeschmack hätte, dann könnte er sie heiraten oder zumindest vögeln, hier im Zug auf der Zugtoilette, aber sie guckt nicht hoch und verpasst seine grandiosen Gedanken, so wie du, nur weil ihr ein beschissenes Wechselspiel treibt zwischen Schwachsinnsminispielen mit explodierenden Vögeln und eurer enormen nicht zu verpassenden WhatsApp-Nachrichtenflut. Ach krass, da sitzt noch einer, ein Typ mit gesenktem Kopf, in diesem verfickten 67 Grad – Winkel auf sein Smartphone starrend, er muss der feste Freund oder Lover der osteuropäisch anmutenden Frau sein, die neben ihm sitzt, die ihn bestimmt und ernst und nachdenklich anschaut, sie gräbt und schaufelt und wühlt in seinem Inneren rum, tief in den Magengeschwüren, die wie eine unerklärliche Fabel in ihm verweilen, ihr Blick spaltet sich in seinem Inneren, sie nimmt ihn gedanklich auseinander, was er wohl denkt was er wohl fühlt was er wohl will, mit ihr, die dreiundzwanzig Jahre älter ist als er, sie würde es vermutlich ahnen können, wenn er seinen scheiss Blick einmal anheben und ihr in die Augen schauen würde. Kaum hält der Zug an und schmeißt die Leute raus, verliert sich ihr Blick für einen erschreckenden Bruchteil einer Sekunde auf den Stufen des Zuges oder auf der Treppe des Bahnhofs, der unüberdacht den Blick freigibt, ehe sie alle direkt wieder in ihr blödes Smartphone schielen und hasserfüllt zusammengebissene Zähne sich in der reflektierenden Oberfläche des iPhones oder Samsungs oder Nokias spiegeln, scheiße wer hat denn heutzutage noch ein Nokia, sie alle sehen es nicht, verdammt, sie sehen nicht dieses geile gedämmte Februarlicht, die beschissen geile Sonne hinter den unfassbar heißen Wolkenstreifen, hart und zärtlich von einem Düsenjet durchquert, da vorne sind bunte Häuser und verdammt grüne Balkonenpflänzchen, ich kann ihre scheiss Nässe nach dem vorübergegangen Regensturm nahezu riechen und alter, dieser verdammt attraktive Zopf der so fröhlich leicht der tiefschwarzhaarigen Formvollendung hinterherbaumelt und als sie sich umdreht wirft sich ihr Blick wie ein brennender Streifschuss an dem meinen vorbei zu dir, du der verdammte scheiße nochmal immer noch auf sein Handy starrt, alter, mach die Augen auf, du verpasst hier gerade das Leben, ich könnte schwören, die tiefschwarzhaarige Venus dort drüber würde direkt über dir herfallen, sie leuchtet und strahlt voller Ästhetik, Glanz und Grazie, da wie sie jetzt dort steht und in deine Richtung schaut, so scheiße nah an mir vorbei, und du, du bist ein Vollidiot, mach deine Augen auf, merkst du denn nicht dass eine liebreizende Zeichnung von einer Traumfrau gerade versucht, deinen Blick zu treffen? Mach die Augen auf, alter, du verpasst gerade das Leben!

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Offene Augen sehen das Leben. Ein Bild von Markus (kuhnographphotography.wordpress.com)!

 

 

38 Kommentare

  1. Klasse! Mir gingen kürzlich, als ich nach mehrmonatiger Bahnpause mal wieder in der U-Bahn saß, ähnliche Gedanken durch den Kopf, die ich im Blog verarbeitet habe. Alle starren ausschließlich auf ihre Smartphones, ununterbrochen, ohne dass irgendetwas anderes ihre Aufmerksamkeit erhalten könnte. Einfach schrecklich. Ja, sie wissen definitiv nicht, was sie dadurch verpassen. Wie viele Chancen des „real life“ sie dadurch ungenutzt lassen, nur um bloß keinen verdammten virtuellen Blödsinn zu verpassen.

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      1. Hmmm…ich weiß nicht, ob du mich hier richtig verstanden hast, Jim mit Kopf, denn ich habe ja nicht die wie ich finde wahren Worte von Chris als „neumoderne Katastrophe“ betitelt, sondern den Inhalt seines Textes bestätigt!
        Also keine zwei unterschiedliche „Ansätze“…

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      2. doch doch, habe dich schon richtig verstanden, vielleicht war „Ansätze“ nicht der richtige Begriff, nur die Art und Weise, dass du das noch packender, umfassender betitelst als er, halt eben nicht so gelassen 🙂

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    1. Ach krass, ich hab’s erst jetzt gesehen, das hast du tatsächlich & ich finde, auch mit einem sehr scharfen Auge beschrieben Chris! Es ist einfach ein Mysterium & man möchte ihnen allen am liebsten ins Gesicht schreien, was das denn soll, aber hier und da ertappt man sich selber in dieser Mechanik des neuen Jahrtausends gefangen.

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      1. Oh ja, ich hatte auch Phasen, in denen ich während der Fahrten mit der Bahn nur mit dem Handy beschäftigt war. Als ich dann bemerkte, was ich dadurch alles verpasste (inkl. der ein oder anderen Haltestelle 😀 ), war ich wirklich geschockt. Und als ich letztens in der Bahn saß, die Umgebung beobachtend und mich fragte, wann es auch ihnen endlich auffällt, drängte sich gleichzeitig das Gefühl auf, ob nicht sogar ich es bin, derjenige, der nicht auf sein Handy starrt, der merkwürdig erscheint. 😀

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      2. Genau das ist es was ich meine, beinahe ist es ein schon fast unangenehmes Gefühl, von den Leuten, die kurz den Blick anheben, angesehen zu werden, wenn man einfach beobachtend dasitzt, so als wäre man selbst derjenige, der sich nicht „normal“ verhält, und vielleicht ist es sogar so in dieser Zeit.

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  2. Ein absolut grandioser Beitrag, so wahrheitsgetreu und detailreich beobachtend wiedergegeben!❤️ Ich musste so lachen über den Stil des sich Aufregens und diese ganzen Handy-Vollidioten, und doch ist gerade das die unsere heutige Zeit, die das Leben so schnelllebig und unachtsam macht, durch diese Smartphones, mit denen so viele ihre Zeit vertrödeln, indem sie das UmSichHerum vollends vergessen. Vielen Dank für den Beitrag und die auffordernde Message dahinter: einfach mal den Blick heben, und nicht senken, ihn umherschweifen lassen und am Leben beteiligen. Wundervoll! 😊

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    1. Merci Netti, ich fühle mich mal wieder sehr verlegen über deine mehr als lieben Worte :-* & du sagst es, das UmSichHerum, das ist doch so wichtig in unserem Alltag und nicht immer nur diese Zentriertheit auf sich und sein scheinbar unermesslich wichtiges Smartphone. Danke noch einmal!

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  3. Ach- ganz vergessen! Auch das Foto vom lieben Markus passt ganz hervorragend zu deinen Zeilen. Ein süßer kleiner Fratz der Junge auf dem Bild, mit seinen großen Kulleraugen. Einfach goldig!

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  4. Ein fantastischer Artikel! Ich habe lange keine Kommentare abgegeben (warum eigentlich? 😏🙄), aber hier muss ich es dir einfach nochmal sagen: du hast einen wunderbaren Schreibstil und ich freue mich jedes mal darauf, deine neuen Post’s lesen zu können! ❤️😘

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    1. hehe, habe mich schon danach gesehnt wieder einmal etwas von dir zu hören & bei dieser Gelegenheit hab ich auch endlich mal wieder bei dir vorbeigesehen, schönes neues Blogdesign, sieht klasse aus und dein Beitrag aus New York, der Hammer, richtiger Sehnsuchtsbeitrag! 🙂

      Ganz großes Dankeschön, Anja, ich freu mich sehr darüber dass dir der Artikel und mein Schreibstil so gut gefällt! :-*

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      1. Aber auch ohne, dass ich überall meine Kommentare hinterlassen habe, habe ich natürlich alle deine Beiträge gelesen und das mit Freude ☝🏻️😊.
        Vielen lieben Dank, habe das Design durch Zufall entdeckt und als gut befunden. Du musst es dir mal auf dem Laptop anschauen (wenn du das noch nicht getan hast)! Und während ich den Beitrag über New York geschrieben habe, kam in mir die Sehnsucht hoch und ich musste nach Flügen schauen. Falls du also Lust auf zwei Wochen New York oder san Francisco hast, ich hab da ein paar Angebote für September gefunden 😏😍.
        Alles liebe ❤️

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      2. Oh das finde ich gut & es ist schön zu wissen 🙂
        Hab es bisher nur auf dem Laptop gesehen, und kann nur wiederholt sagen, fantastisch ausgewählt, es passt wirklich gut zu deinem Blog! Ich warte übrigens noch auf die Kooperation :))
        Hehe, da hab ich verdammt Lust drauf, September ist bei mir zwar generell Klausurphase, aber hey, man muss Prioritäten setzen 😀
        :-*

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  5. Früher gab’s mal autofreie Sonntage ;.D – vielleicht sollte man für alle diese „Smombies“ den Smartphone u. Tablet freien Sonntag einführen.
    Ein Tag im Monat ohne Internet, damit sich auch der „Handy-Nacken“ mal entspannen kann :mrgreen: Wäre sicher auch förderlich für so manche zwischenmenschliche Beziehung.

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      1. Machst du Witze? Kommunalpolitisch war aktiv war ich schon und jetzt würde ich einfach mal fordern, dass gerade ihr jungen Wähler politisch aktiv werdet und eure Interessen vertretet. Ein Sonntag ohne Internet – nicht realisierbar! War ja auch nur ein Späßle, aber mal ohne Smartphone außer Haus gehen oder stundenlang nicht drauf schauen, das wäre eine „heilsame Therapie“. Mit solchen Leuten würde ich einen mehrstündigen Spaziergang durch den Wald machen und Pilze sammeln 😀 oder eine schöne lange Radtour machen! Was meinst du, was es da alles zu sehen gibt – IN NATURA!
        Aber mal im Ernst, es gibt sehr viele junge Leute, die das Smartphone auch mal in der Tasche lassen 👍😄

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      2. Hey, schau, da habe ich doch genau das Richtige angesprochen 🙂 Wobei ich gestehen muss, dass ich mich von Politik fernhalte, so weit es geht, das mag egoistisch klingen, aber ich bin nur ein stiller Beobachter.
        Diese heilsame Therapieidee von dir würde ich glatt unterstützen, das sind einfach Dinge, mit denen kaum noch jemand in meinem Alter zu begeistern ist, was schade ist, denn dadurch verlieren sie den Blick und das Gespür für eben diese Dinge der Natur, des Lebens.

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  6. sehr wahr, diese beobachtung. wieviel verpasst man wohl vom leben, seit es diese verfluchten mobilen telefone gibt? da gabs ja mal einen total viral gehypten video clip dazu, ich glaube, der hieß sogar look up.

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    1. Ich kenne das Video, ein wirklich perfekt gesprochenes „Spoken Word“, so wahr und augenöffnend, fast zwei Jahre alt, über 50 Millionen Aufrufe & alle so „Ja man, der Typ hat so recht“, aber die Zahl derer, die danach wirklich ihren gesenkten Kopf angehoben haben ist verschwindend gering. Schön dass du das hier aufführst!

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      1. Ich denke, es ist zumindest ein guter erster Schritt, sich den Mustern und Strukturen und Gewohnheiten bewusst zu werden, um sie anschließend auf sich selbst anzupassen, sie zu seiner Erfüllung zu verändern, vielleicht auch komplett zu verdrängen 🙂

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  7. Geiler Text, brandaktuelles Thema!!! Da musste ich zuschlagen und hab mich direkt mal inspirieren lassen 😉 Soooo gut geschrieben! Und hey, danke fürs Bild verlinken, ehrt mich natürlich doppelt 😉 Immer weiter so, ohne diese Texte würde mir echt was fehlen 😉

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  8. Gefällt mir auch sehr gut.

    Das sind so wahrhaftige Texte die man bei so vielen Zugfahrten fühlt, im Nachhinein aber nicht das Herz hat um sie aufzuschreiben.

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    1. Das freut mich sehr, danke dir, schön dass du diesen Text als solchen erkennst und wahrnimmst, denn genau das ist er, mit dem Unterschied, dass es mir viel zu sehr in den Fingern gejuckt hat, aus den Fragmenten meiner Notizen des Moments einen ganzen Beitrag zu basteln! 🙂

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  9. Ich bin gerade auf deinen Blog gestoßen und ey, ich hab fast nicht mehr gekonnt vor Lachen. Ein sarkastisches, verbittertes, herzliches Lachen über deine treffende Beschreibung von den Leuten. Echt super! Werde auf jeden Fall noch ein wenig in deinem Blog stöbern.
    *stell dir hier einen von diesen eigentlich überflüssigen Facebook Daumen nach oben vor* 😉

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    1. Ich liebe es Menschen mit meinen Texten zum Lachen zu bringen, umso mehr bin ich entzückt, dass du mir das mitteilst, dankeschön, ich freue mich dass du auf meinen Blog gestoßen bist! 🙂
      Liebe Grüße,
      Jim

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