Sezierung des Tages

Mein Tag begann unerträglich früh. Oder spät, je nach Sichtweise. Um 01:27 Uhr in der Nacht erlaubten mir die wirklich bis auf den letzten Stichpunkt meiner imaginären ToDo-Liste abgearbeiteten Pflichten den Sturzflug ins natürlich nicht ordentlich hergerichtete Bett, ehe mich nach weiteren zehn Minuten unfreiwilligem Lauschens der sich in den angrenzenden Garten angesiedelten Grillenschweine der im Optimalfall viereinhalbstündige Schlaf empfing. Wie ein einzelner Flügelschlag des Kolibris fühlte sich demnach die Zeitspanne bis zum weckerbedingten Aufwachen an; ein präziser Strich über das Smartphone-Display ließ mich erneut in den Tiefschlaf sinken, unglücklicherweise wartete ein weiteres, zu fünfzig Prozent in die Gesamtnote eingehendes Referat darauf, vor zwanzig desinteressierten Augenpaaren inklusive einer sich fortsehnenden Dozentin abgehalten zu werden. Praktisch in sofortige Hektik versetzt sprang ich dann wohlige anderthalb Stunden später auf, zog mir ungeachtet der prognostizierten neununddreißig Grad das wärmste im Kleiderschrank zu findende Hemd an, machte mir so kreativ wie ich bin zwei Brote mit Käse-Schinken und Schinken-Käse, stopfte sie in den Rucksack und rannte aus dem Haus. Selbstverständlich ließ sich am Bahnhof kein Parkplatz finden, weshalb ich einen recht schön anzusehenden Porsche Panamera bis auf eine Wendemarge von geschätzten drei Zentimetern zuparkte; das Unwohlsein der Parksituation ließ mich im Augenblick des Aussteigens meine unter der Windschutzscheibe brutzelnde Sonnenbrille vergessen, insofern unangenehm, dass nun jeder Bahnfahrer beim Anblick meiner roten, tränenunterlaufenden, angeschwollenen, in wahnsinniger Übermüdung ständig blinzelnden Augen einen Drogensüchtigen vermuteten wird. Zwischen Fertigkaffee, Brot und Karteikarten wechselnd verbrachte ich die Fahrt in Trance – nicht einmal schaffte ich es, die üblichen Alltagskritikgedanken während der Bahnfahrt auszuüben. In Düsseldorf verpasste ich natürlich die Anschlussstraßenbahn, warf einen von Missgunst erfüllten Blick auf das Bestseller-Regal der Buchhandlung im Bewusstsein, es könnte noch eine Weile dauern bis die ach so inspirierenden Lebensratgeberschinken durch mein autobiografisch-anmutendes Meisterwerk „Jim Kopf und der Stein des Leisen“ ausgetauscht wird. In der Straßenbahn nahm ich wie gewohnt im Mittelgang platz und bereitete mich schon auf siebenundzwanzig Minuten der Ruhe und des Seelenfriedens vor, doch die vermutlich größte Mittelstufenklasse der Welt schaffte es in allerletzter Sekunde, noch in mein Abteil zu strömen, und verweilte dort für den Großteil der Fahrt in einer penetranten Lautstärke, die nur pubertierende Jugendliche mit Zahnspangen und Pickeln von sich geben können, wie wenn sie das erste Mal nackte Brüste oder einen Penis gesehen haben – der Tumult grenzte an Körperverletzung, und wäre ich nicht selbst einmal eines dieser Wesen gewesen, so wie es viele Erwachsene und ältere Herrschaften gerne mal vergessen, hätte ich ohne Ende gemotzt und mich aufgeregt und echauffiert und Sachen wie „Das ist ja unerhört!“ gesagt. Inakzeptable fünfundvierzig Minuten zu spät platzte ich dann in den Vorlesungsraum, Mist, da sind doch glatt zwei Bahnen hintereinander ausgefallen, da ist man als Pendler einfach machtlos, sagte ich, hielt ein bombastisch gutes Referat, erntete Applaus und ein fast flirtgleiches Lächeln der viel zu alten Dozentin, ließ mich gut gelaunt auf meinen Sitzplatz in der hinteren Ecke fallen und fing an, mich meiner Leidenschaft zu widmen: Zu schreiben.

21 Kommentare

  1. Fein ist sie, deine Leidenschaft!
    Hier kann man es erneut sehen und von ihr lesen und sie geniiiiießen,

    und…

    Gratulation zum gelungenen Referat, vor allem nach diesen Dingen des Lebens direkt davor…

    Liebe Septembergrüße vom Lu

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  2. ich wünsche mir fast, dich einmal „das ist ja unerhört“ sagen zu hören 🙂 gratuliere zum gelungenen referat. ich musste mal eins schwer verkatert halten und bin vor übelkeit und schwindel fast umgekippt, allzuviel applaus gabs nicht, aber immerhin hab ich es auch überstanden – die geschichten, die das studentenleben schreibt 😀

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  3. Sehr geil geschrieben! Ich fresse diese Text geradezu in mich rein und seh Dich vor mir, genervt, angespannt, gestresst und wieder entspannt und zufrieden. Soooo cool! „Jim Kopf und der Stein des Leisen“ ;-))) Ich kauf das Ding! Sofort! Erstausgabe mit Autogramm bitte! Es ist einfach unfassbar unterhaltsam, einen Tag mir Dir zu „durchleben“… Und was die Dozentin angeht, war das was feines ? ;-)))

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  4. Hach. Glückwunsch für dein grandios gelungenes Referat, und damit verbunden dein Beitrag dazu. Schreiben. Deine Leidenschaft die dich du Selbst sein lässt, deine Leidenschaft die dich er,- und ausfüllt. Deine Leidenschaft das Schreiben, die wir alle brauchen: um zu Lesen, was du zu erzählen hast, so groß deine Worte, immer wieder. Vielen Dank dafür! Am besten gefällt mir der Teil mit den nervigen Kids. Unerhört sowas, spräche es aus mir heraus, nicht nur im Kopf. Sei lieb gegrüßt.😘

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