Chronisches Schnupfen

Alles fing an, als ich mir diese eine Frage stellte: Ist Schnupfen eine logische Nebenerscheinung des Nachdenkens? Bekanntlich denke ich viel und oft und lange nach. Doch mit dem Auftauchen dieser Frage ist zudem etwas anderes aufgetaucht – das Bewusstsein für eine laufende Nase. Sie läuft und läuft und wenn’s nicht aufhört resultiert es in dem Sammelbegriff Schnupfen. Sie hört selten auf, läuft weiter, ohne dass ein Ende absehbar wäre. Kein Licht am Ende des Tunnels. Ist es nicht bei Depressionen das selbe? Zu viel nachdenken, überwältigt von der Dunkelheit des Weges, auf dem man sich befindet. Wobei, es bedarf schon einer Herausforderung, den Weg noch als solchen zu erkennen, je nach Fortschritt. Gelingt es nicht, dann… ja dann läuft die Nase. Da frage ich mich: Ist Schnupfen eine Art Hilferuf einer möglicherweise einsetzenden Depression? Oder eine Maßnahme der Nuancen einer sich anbahnenden Dunkelheit im Raum der Gedanken? Im Sinne der Veränderung, die damit bezweckt werden will. Sie will aufhören. Aufhören zu laufen; gestillt werden. Mit dem Stillstand des Schnupfens einen Funken Licht in die Dunkelheit werfen. Oder ein bisschen mehr Ruhe in die Bahn, sind sowieso zu viele Leute am quatschen. Da fällt es lediglich dem Sitznachbar auf, dass ich derjenige bin, der Schnupfen hat. Für die anderen ist es nur dieser hochziehende Ton, eine unangenehme Melodie, ein Schrei der Nase. Weder er, noch sonst jemand, kümmert sich darum – im Gegenteil, er macht sich schuldig, in dem er das Gefühl vermittelt, die schnupfende Nase durchbricht die Stille zu seinem Leidwesen. Halts Maul, Nase. Denke ich dann. Viel lauter ist aber das Halts Maul meines Nachbarns, der nichts sagt, aber röchelnd und missbilligend auf den Umstand verweist, dass meine nachdenkliche Schwärze ein Grund für seine schlechte Laune sei. Tut mir leid, alter Mann, schnieft meine Nase. Und mit ihr der Gedanke, ich sei die Verkörperung des Unwohlseins im Augenblick einer gesellschaftlichen Situation. Wenn möglich, müsste ich jetzt gemieden werden, schniefen meine Gedanken und machen mich kleiner als ich doch bin, in dem schwarzen Mantel, der mich wie ein Kokon umhüllen soll. Mein Herz rast, zu tief sitzende Gedanken bringen ihren Rhythmus durcheinander. Ebenso den Rhythmus meiner Nase, ruhig zu sein, immer dann, wenn die Situation es erfordert: In der Bahn, in der Klausur, im Gespräch. Die Gedanken aber wollen das alles nicht und werfen ihr Schnupfen in den Raum – flüsternd, schreiend, krachend, still.

20 Kommentare

  1. 😂😂😂😂😂Ich lach mich tot, lieber Jim! Entschuldige, aber das ist einfach zu geil! Dieses Bild! Dieses Geräusch! Ich hau mich weg! Magst du mir diesen Beitrag bitte bitte per Mail schicken!? Ich mags immer wieder lesen, wenn auch bei mir der Schnupfen mit den Sinnlos-Gedanken auftaucht. Nase hochziehen kann ich gut. Papa hat geflucht dadrüber. Danke Jim! Danke für diesen Hammer Beitrag! Danke dass du mich herzlich lachen lässt. Das tut gut! 😘

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  2. sehr genial geschrieben! vielleicht läuft die nase, weil man sie voll hat von diesem und jenem. es gibt meist eine verbindung zwischen körper und geist und es hilft sehr, sie zu verstehen.

    Ruediger Dahlke sagt, dass die Nase für Macht, Stolz und Sexualität steht. Auf der Symptomebene schreibt er unter dem Stichwort „Erkältungskrankheiten“: die Lebenssituation lässt einen kalt, man lässt sich für nichts mehr erwärmen. Er erwähnt eben die Sprichworte „die Nase voll haben“, „verschnupft sein“ – dies nur als kurzen Auszug, vielleicht ist da was Interessantes für dich dabei ^.^

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  3. 😀 das ist eine ausgesprochen amüsante Performance für die laufende Nase. Großartig.
    Ich überlege, wie amüsant du das eigentlich gemeint hast beim Schreiben.
    Aber unterm Strich hat es bei mir prustendes Lachen ausgelöst, vielleicht auch, weil die laufende Nase vermutlich noch nie in der Literatur ein Hauptakteur sein durfte. Wobei, das stimmt nicht, fällt mir gerade ein; es gibt einen Roman, der heisst: Der Schnupfen 😉
    Muss mal schauen, ob ich den wieder finde.
    Keine Ahnung, worauf eine laufende Schniefnase hinweist, außer auf Rotz. Meine schließt sich deiner an, ist mir wohlvertraut. Sobald du psychoanalytische Diagnosen zur Hand hast, her damit 😉
    Gute Besserung.

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    1. Danke Jetamele! Und ja, das ist ein richtiger Gedanke… ehrlich gesagt war mir nicht sehr nach Lachen zumute beim Verfassen. Aber das heißt ja nicht, dass kein herzliches Lachen auslösen kann.
      Der Schnupfen? Leih mir den dann mal aus, wenn du es fertig gelesen hast 😀
      „Außer auf Rotz“ ist verdammt cool gesagt! Rotz in vielerlei Hinsicht…
      Danke für die lieben Worte!

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      1. Gerne 😉
        Ich finde das Buch allerdings irgendwie nicht wieder …. vielleicht ist es wie der letzte Schnupfen wieder verzogen, ohne dass ich es gemerkt habe? 😉 Beim Schnupfen fällt es einem ja meist auch nicht auf, wenn er wieder weg ist.
        Na, wenn ich es finde, dann denke ich an dich!
        Rotzigen Gruß, Andrea

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  4. Die Nase als „Zustandsmesser“ Du hast wohl „die Nase voll“, bist total verschnupft“ oder so was in der Art. Womöglich muss man die Nase auch unter psychosomatischem Gesichtspunkt sehen. Auf jeden Fall hast du deinen Humor behalten und ich hoffe, du kannst bald „wieder frei durchatmen“. Liebe Grüße

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