Freiheit für zwei, drei Sekunden

Auf der morgendlichen Bahnfahrt gibt es eine wirklich kurze Sequenz, nur etwa zwei bis drei Sekunden lang, bei der sich mein Blick wie von selbst vom Buch erhebt und durch die Fensterscheibe auf das hinaus schaut, was mir eine kleine, eigene Welt mitten im Ruhrgebiet präsentiert. Dort sehe ich einen kleinen See, umgeben von Tannen und Fichten, die nun in der grauen Dezembermitte völlig entblättert und damit verwahrlost erscheinen, und hinter ihnen erheben sich Strommasten wie auf Zehenspitzen stehend. Das Wasser ist spiegelglatt, steril und auf eine entzückende Art so ruhig wie die an einem kalten Morgen auftauchende Nebelstille. Kein Aufbäumen, kein Niederwerfen, nur dieses Monotone, Gleichförmige und sich immer wiederholende Nichts aus Bewegungen, die den Himmel spiegeln und das Meer aus verblassten Grün-, Blau- und Brauntönen des angrenzenden Raumes in sich vereinen. Ein magischer Anblick. Doch die Szenerie wirkt deplatziert. Das Deplatzierte ist zwar voll Schönheit und Reinheit, aber auch ein Fremdkörper inmitten eines berührten, veränderten Ortes. Die Gleise, die Oberleitungen, die Hochhäuser. Die Waggons, die Straßen und der schier unendliche Reichtum menschlicher Geschöpfe, die nur darauf aus sind, diesen ausgemusterten Fleck der Natur auch noch für sich zu Nutze zu machen. Wie wäre es mit einem Wohnkomplex? Oder einem Einkaufszentrum?

Während die Sicht auf den See nur von kurzer Dauer ist, gelingt es einer sehr lebendigen Vorstellung, länger haften zu bleiben. Es ist eher eine Idee als eine Vorstellung, die Idee von Freiheit. Hier, mitten im Ruhrgebiet. Das klingt wahnsinnig paradox, willst du mir da nicht zustimmen? Im Ruhrgebiet ist nichts frei, alles Leben spielt sich in Bahnen ab. Egal wie individuell du bist, auch dein Gleis ist ein Gleis in Ketten. So auch die Natur. Hier ist ein Park für dich, hier ist der eingezeichnete Weg, hier darfst du wandern. Auf dem Gipfel einer Halde bauen wir ein Monument. Das Restaurant am Flussufer. Die Allee aus Bäumen, jeder einzelne so perfekt gestriegelt wie die Haare des schmierigen Geschäftsmannes. Und dann das: Erde. Unberührt. Unantastbar. Unzugänglich. Der einzige Zugang ermöglicht das Auge, das den See mit seinen Tannen und Fichten, und damit, das eine kleine Welt aus purer Erde erblickt. Pure Erde bedeutet Freiheit. So ist es. Das Auge sieht Freiheit. Für zwei, vielleicht drei Sekunden. Und die Gedanken tragen die Freiheit bis zum nächsten Bahnhof, wo sie aussteigt und das Gleis wechselt.

 

13 Kommentare

  1. Ich lese aus Deinem Text ganz viel Schwere raus. Schwere die ich auch immer mal wieder empfinde. Und wie so oft holst Du mich mit Deinen Worten sofort ab. Ohne Umwege. Ich sehe die Szene sofort vor meinem inneren Auge. Einmal mehr, vielen Dank dafür. In so wenig Worte soviel Freiraum und Ernsthaftigkeit zu packen ist wirklich eine große Kunst!!

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    1. Schön zu lesen, dass ich dich wieder damit erreichen konnte. Wir denken da ähnlich, das ist ja nichts neues. Und ja, solche Gedanken liegen tief, und sind schwer mit etwas Positivem zu füllen, solange man sich weiterhin in diesem gewohnten, aber nicht verehrten Raum bewegt.
      Danke!!

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