Mach die Augen auf, alter 2

Das Blitzlichtgewitter des frühabendlichen Aprilsturms konkurriert in hellen bis sehr hellen Zuckungen zwischen aufgebauschten Wutwolken, denn warum sollte es nur Wutbürger geben, und lackklavierschwarzen Himmelsfarben mit den hellen bis sehr hellen Smartphonedisplays viel zu vieler Afterwork-Gleismenschen am hintersten und auch auf allen anderen der zwanzig halbüberdachten Bahnhofsgleise. Sollte einer dieser pendelnden Vollzeitzombies von seinem Smartphone auch nur einmal für den Bruchteil eines Kolibri-Flügelschlages aufschauen, sähe er mich vielleicht in der melancholisch-nachdenken Pose des an der Werbetafel lehnenden Nichtmehrrauchers und könnte in Anbetracht der viel zu großen, nicht kabellosen, immernoch abgrundtief unterdurchschnittlichen Beats-Kopfhörer – hauptsache der Bass knallt – und den nicht ganz so dezenten Nuancen einer tiefroten Augenhöhle im Einklang mit dem matt glänzenden Nike-Logo auf meinen brandneuen, nach vier rücksichtslosen Minuten auf dem Ascheplatz eines befreundeten Heimatvereins nicht mehr ganz so brandneu ausschauenden Knöchelfreisneakers zumindest den Versuch unternehmen, sich zu hinterfragen, warum er so aussieht wie er aussieht und vor allem, warum da jemand ohne seinem Smartphone steht und ich würde ihm sagen…

guck mich an! Guck nicht ihn an, der auch auf sein Smartphone schaut. Guck mich an oder sie an oder den jungen Schaffner an, dessen Aufregung sich an seinem ersten Ausbildungstag in zitterndem Augenliderbibbern ausdrückt und mit dem Heranschnellen eines ICE’s der vierten Generation in absurden Formen mikrotanzender Fuß- und Hüftbewegungen übergeht, während das Smartphone in den kaltnassen Wurstfingern von der Klippe zu rutschen droht. Guck die beiden Tauben an, beide eisenoxidgrau und ganz im Stile industrialisierter Bergbauarbeiter mit rußgrauen Bäckchen auf den Gleisen nach Nahrung suchend, oder den Baum an, ja ein Baum, er ist zwar scheiße weit entfernt und man sieht ihn nur mit Tunnelblick an funkenden Oberleitungen und nicht funkelnden Gehwegen vorbei, aber es lohnt sich, weil er lebt und im Wind weht wie deine wenigen Haare auf dem toten Kopf der du bist, Gott wie einsam und allein doch die übrigen Gehirnstränge in deinem Gehirnlein in Minuten und Stunden wie diesen sind, Smartphone rechte Hand, Augenpaar im verfickten 67-Grad Winkel darauf starrend. Wenn sich der Fokus deines Blickes kurz von dem Endzeitgerät nur einen Spalt breit weiter daneben auf den so weit entfernten Boden richten würde, sähest du vielleicht die Taubenkacke auf deinem Lackschuh und anstatt dir zu denken, was ein Haufen Scheiße, könntest du die Flugbahn der Taubenkacke in einer prompten Epiphanie rekonstruieren und darüber glücklich sein, dass sie nicht auf deiner ermatteten Halbglatze geklatscht ist, auch wenn ich es dir sicherlich gewünscht hätte. Neben dir steht noch einer mit Smartphone in der Hand, er müsste vierzehn Jahre alt sein und trägt bombastisch große, wie für Hulk höchstpersönlich entworfene vollrote Wander- oder sind es Turnschuhe zu der schwarzzerschlissenen Röhrenjeans; seine kleinen Augen sind wie von notgeiler Geisteshand berührt in der flimmernden Farbenwelt seines Smartphones versunken, oh eine hübsche Frau, oh, noch eine, ja die sieht gut aus, Like, was, er hat schon Tinder? Scheiße, warum sagt denn die strenge, dank der breiten Hornbrille und dem engen Hüftrock wie eine Hochschuldiktatorin danebenstehende Frau fortgeschrittenem Alters denn nichts dazu? Sie sagt nichts, weil sie es nicht sieht, sie sieht nicht den frühpubertierenden Bengel mit der Erwachsenenapp neben sich, sie sieht nicht den schüchternen Mann fortgeschrittenem Alters zwei Schritte weiter neben sich, wie er hier und da von seinem Smartphone auf- und zu ihr schaut, ja, es muss ihre wilde Mähne sein die es ihm angetan hat, und würde sie auch zu ihm blicken dann wäre es Liebe auf den ersten Blick und wenn die Augen auf sind ist der Geist es auch und man fängt an zu fantasieren und sieht wie Schüchternheit und Strenge wie Cola küsst Orange aufeinanderprallen und sie in Lederbuchse und er in Handschellen Liebe machen und oh, da bin ich abgedriftet, aber genau darum geht es, die Augen auf zu machen um das Leben nicht zu verpassen, um Fantasien ihren Wildwasserlauf zu lassen und Kleinigkeiten in der Wirklichkeit zu erkennen, die mehr sind als nur das, weil die Fülle an Kleinigkeiten das große Ganze weniger smartphoneverseucht und lebendiger erscheinen lassen als alles, was du in den Grenzen deiner Mobilfunksucht noch erkennen kannst. Lebendiger als das Spielen unrelevanter Smartphone-Games sind zum Beispiel Berge, auch wenn es hier im Ruhrgebiet keine gibt, aber selbst das fällt dir nicht auf, denn wenn es dir auffallen würde wäre dein Mallorca-Urlaub augenblicklich von deinem gesunden Menschenverstand zugunsten einer Norwegenreise storniert worden, doch alles was du siehst sind die Berge und Hügel und Kratzer deines mehrfach auf den Boden gekrachten Smartphonedisplays. Eine Schande, könntest du doch mit der hart räuspernden, durch die Bahnhofshallen hallende Frauenstimme eine Auszeit von dem nehmen, was ihr seht, um zu sehen, was ich sehe, wenn ich hier stehe und euch beobachte und alles in mir aufsauge und verdammt, würdest du kurz aufschauen, sähest du vielleicht mich und ich würde dich anschreien, mach die Augen auf alter, du verpasst gerade das Leben, siehst du denn nicht, dass dir deine Umwelt so viel mehr bieten kann als jeder einzelne Pixel deines Smartphones: Das mittlerweile völlig durchnässte Götterspeisengrün der Fichten am Bahnhofsrand. Der Polygonfleck aus Taubenkacke auf einst glänzenden Unternehmerstiefeln. Die Laufmasche im gänzlich ausgefüllten Bleistiftrock der angehenden Dozentendiktatorin. Das schonungslose um-die-Wette-Blitzen sich spiegelnder Augenpaare und der vom Himmel wie leuchtender Plankton-Regen fallenden Blitze. Guck hoch verdammt, es sind diese Miniatur-Beobachtungen, die den Alltag weniger alltäglich erscheinen lassen, guck hoch und sieh zum ersten Mal echt und ohne Smartphone die Wirklichkeit mit all seinen Farben, Formen und lebendigen Quäntchen des Glücks, die überall um dich herum verteilt sind, guck hoch und mach die Augen auf alter, du verpasst hier gerade das Leben!

kuhnograph_kind_offene_augen
Offene Augen sehen das Leben. Ein Bild von Markus (http://kuhnograph-blog.com)

7 Kommentare

  1. Reale Kontaktaufnahme mit leibhaftig vor dir seienden Menschen kann Leben verändern :o) … aber ja, sie wird nicht oft wirklich zugelassen und erfordert … eine gewisse Unerschrockenheit und Hartnäckigkeit … und dieses dings … dieses … wie heißt das noch mals, dings … URVERTRAUEN! :o) !!!! (Und den Mut, sich einen Korb zu holen und sich davon nicht so wahnsinnig runterziehen zu lassen) … es gibt so viele Menschen, die vielleicht irgendwo irgendwie …. hoffen(?), wahrgenommen zu werden … schön, dass deine Augen weit offen sind! Herzliche Grüße aus Wien!

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    1. Urvertrauen in diesem Zusammenhang zu nennen finde ich sehr klug, das lässt den Freiraum für viele weitere Gedanken… danke für deine Worte und liebe Grüße zurück nach Wien! 🙂

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  2. Yeah! Da ist er! Der unverwechselbare Jim! Wie immer soooo gut geschrieben, man bekommt wirklich einen Hass auf diese Generation (auch wenn ich viel tiefer drin stecke als ich will)… Mit Deinem Text im Hinterkopf werd ich ganz sicher ganz bald eine Szenerie einfach mal beobachten und nicht dieses verfickten 67 Grad Winkel einnehmen… Lass uns das in Frankfurt machen, nur ein paar minuten 😉 Freu mich drauf! Und danke fürs Bild, das ehrt mich 😉 Hau rein!!!

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    1. DANKE Markus! Echt mega nett von dir! Glaube aber dieser Text kann nicht mit dem ersten mithalten, vielleicht zu durcheinander… aber naja, die Message kommt an glaube ich 😀 Und auch ich stecke tiefer drin als es vielleicht der Anschein ist…
      Machen wir! Du fängst anschließend die Szenerie mit deinen Fotos ein, und ich mit Worten?!

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