Das Vancouver-Gefühl

Gestern nahm ich den letzten Bus zurück zur Unterkunft etwas außerhalb von Vancouver. An der äußersten Ecke der Busstation stand ein Mann, er müsste noch in seinen Zwanzigern gewesen sein. Nein, er stand nicht, er tanzte. Er sah normal aus, breite Hose, langes T-Shirt, Cap, machte keinen betrunkenen Eindruck, vielleicht hatte er ‚was geraucht, aber das machen alle hier. Seiner Art zu tanzen nach fühlte er die Musik, es müsste Rap gewesen sein, zu dem er sich bewegte. Ausgelassen und nur auf sich fokussiert drückte er durch seine Bewegung ein Gefühl aus, das nicht nur etwas mit der Musik zu tun hatte, sondern auch mit der Stadt. Ich verstand es nicht ganz, was es war, sah aber, dass es eine Verbindung zwischen dem gab, wer er war und wo er sich befand.

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Downtown Vancouver – (c) Jim Kopf

Jetzt gerade stehe ich an der selben Stelle, in der durch zwei Scheinwerfer beleuchteten Ecke der Busstation Lougheed Town. Und wisst ihr was? Ich tanze. Ja, ich wackele mit dem Kopf, bewege die Beine, steppe von links nach rechts. Erst zu Shakey Graves, dann Flume, Clueso, oh, die Crystal Fighters. Meine Playlist unterwirft sich keinem Genre, keiner Laune, keinem bestimmten Gefühl, sie spielt und malt damit ein Gefühl, das ich doch irgendwo gesehen habe, erst kürzlich. Ja!, gestern, der Mann genau hier. Ich tanze hier so wie er es tat. Die Großstadt war nie mein Freund, doch jetzt gerade fühlt sie sich gut an, beinahe außergewöhnlich gut, ja, ich bin von ihr erfüllt. Am Strand war ich heute, in den bergigen Wäldern, in der Stadt zwischen glänzenden Hochhäusern und felsigen Küstenabschnitten. Hab gut gegessen, einen guten Kaffee gehabt, ein gutes Bier. Hab nette Menschen kennengelernt, ha!, dass ich das sage, eigentlich wollte ich doch nur alleine sein, alles alleine machen. Einer nahm mich im Auto mit als ich den frühen Bus verpasst hatte, welcome to Canada sagte er.

Ja und gerade, da habe ich die Bahn zur Bushaltestelle genommen, mir die Kopfhörer aufgesetzt, um alles zu verarbeiten, was ich heute gesehen und erlebt habe. Das Gefühl stieg in mir auf, noch vorsichtig und fast schüchtern, doch als ich die Menschen in der Bahn sah, die eine hatte pink gefärbte Haare, zwei offensichtliche Comicfans, ein schwules Pärchen, eine mit selbstbewusstem Kurzhaarschnitt und Cocktailkleid, ein Chinese ganz in schwarz gekleidet mit goldener Kette, eine ältere Dame in Kniestrümpfen, Gruppen von Studenten, jeder einzelne trug etwas seltenes, mir nur selten aufgefallenes Merkmal, ein Symbol am Ohrring oder Shirt mit Aufdruck, ja, sie alle waren nicht seltsam oder komisch, nein sie waren sie selbst. Die ganze Bahn war erfüllt von diesem ansteckenden Gefühl, dass jeder die pure Version seiner selbst war, während gleichzeitig die Masse an Einzigartigkeit zu einem Niemandsgefühl führte, das gut war. Man war das Ich, das man sein wollte, niemanden störte es, niemand störte sich daran.

Also tanzte ich. Ganz unbewusst, es gelang mir nicht einmal darüber nachzudenken, ob ich beobachtet wurde. Genau wie der Mann von gestern. Es hat etwas mit dieser Stadt zu tun und mit der Version seiner selbst, die man ganz ungezwungen sein will.

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Im Gaslight Distric von Vancouver – (c) Jim Kopf

12 Kommentare

  1. Ich finde ja, wir sollten überhaupt viel öfter tanzen, ohne darüber nachzudenken, was andere davon halten, frei im Kopf, im Herzen in den Beinen… das Leben tanzen. So wunderschön, wie du beschreibst, wie dir ein solcher Moment des Einfach Seins gelungen ist!
    & tolle Bilder!
    lg. mo…

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