Verräter

In meinem Auslandssemester habe ich jedem erzählt, dass ich nach meinem Dualen Studium jedes Jobangebot ausschlagen werde. Ich möchte Buchautor werden, habe ich erzählt, ich möchte erstmal noch das Leben in einem anderen Land kennenlernen, hab ich gesagt, und hab’s als unveränderliche Wahrheiten dargelegt. Selbstverwirklichung war das Stichwort. Nicht jeder konnte mich verstehen, aber jeder versuchte es zumindest: Das ist echt cool, sagten sie, das ist außergewöhnlich. Ja, sagte ich, ich muss das einfach tun.

Dann kam das Jobangebot und ich hab’s angenommen.

Während ich dies schreibe, sitze ich in der Sonne, es ist Mittagspause, eine Stunde Zeit also, mich von der Extrovertiertheit in der Werbeagentur in etwas Einsamkeit zu stürzen. Kopfhörer auf, ein Schnitzelbrötchen, eine Fritz Kola.

Warum habe ich das Jobangebot angenommen?

Eine schwierige Frage, die ich mir immer und immer wieder in allen möglichen Variationen stelle. Nicht nur, seitdem ich tatsächlich Vollzeit im Job bin, sondern auch in den drei Jahren davor, als ich im Dreimonatswechsel in die Uni und zur Arbeit ging. Ich weiß, dass es etwas damit zu tun hat, warum ich jetzt wieder darüber schreibe; über diese Fragen und meine Gedanken zu schreiben ist dasselbe wie anderen zu erzählen, welchen Plan ich hatte. Darin liegt Verrat, an die, die mir geglaubt haben, und an mich selber. Es sind bloß Worte, unbeholfene, verträumte Worte, die nichts mit der Realität gemeinsam haben, ob geschrieben oder ausgesprochen, sie handeln von dem Traum, den ich mit jeder ausgesprochenen oder ausgeschriebenen Wiederholung um eine Nuance mehr romantisiere. In diesen Augenblicken begebe ich mich an den Ort in meiner Vorstellung, und bin von den vielen Einzelheiten erfüllt, die meine naive, verträumte Art in die Idee der Selbstverwirklichung platziert.

Da ist das Licht, und da, wo ich tatsächlich bin, ist ein Abgrund.

Das Dunkle, das mich beim Schreiben dieser Zeilen umgibt, entspringt der Gewissheit, auf meine Worte keine Taten folgen zu lassen. Ich bin der, der andere verurteilt, wenn sie sich über ihre Lebensumstände beschweren, und überhaupt, der das Beschweren an sich verurteilt, diesen Prozess der Bekanntmachung all seiner Unzufriedenheiten, das bringt doch nichts, du verschwendest viel zu viel Energie damit; aber bin ich nicht gleichzeitig der, der sich am deutlichsten und öftesten beschwert, über die Umstände, wie sie sind, und all die Grenzen, die ich um mir herum fühle? Der Unterschied ist, dass ich es nicht als Beschwerde formuliere. Ich nenne es eine Vorstellung, eine Idee, einen Traum, aber dem, was es tatsächlich ist, kehre ich immerzu den Rücken zu. Die Idee ist eine Beschwerde.

Wenn ich also über das Schöne in der Selbstverwirklichung schreibe, anderen von der Idee des Möglichen erzähle, und dies so hinstelle, als sei es der Weg, den ich bereits im Begriff bin einzuschlagen, ohne ihn tatsächlich einzuschlagen, ist das dann nicht wertlos und verräterisch?

Ich erinnere mich an die Rezension eines Ratgeberwerkes, in der stand: Dieser Ratgeber wirft viele Fragen auf, beantwortet diese aber nicht. Er soll also Rat geben, indem er solche Fragen aufwirft, die in den Köpfen des Lesers als etwas Rumorendes, bisher nicht konkret Definiertes herumschwirren. So gesehen: Auf diese Fragen soll der Leser seine eigenen Antworten finden. Ein toller Ratgeber. Und so fühle ich mich auch: Ich werfe Fragen auf, auf die noch eine weitere Welle an Fragen folgt, und dann noch eine Welle und noch eine Welle, aber die Brandung, das klärende, sich Lösende, bleibt mir verwehrt. Und der einzige Grund, warum dies so ist, ist die Nichtumsetzung in der Wirklichkeit.

Die Jobannahme war eines dieser Nichtumsetzungen.

Eine Nichtumsetzung ist allerdings auch ein Stück Realität. Sie entfernt sich von der Romantisierung einer Idealvorstellung und gleicht diese mit den realen Umständen ab. Ein Beispiel: Der Weg zum erfolgreichen Buchautor soll in einem kleinen, abgeschotteten Dörfchen im indischen Himalaya erfolgen. Keine Ablenkungen, keine Unterbrechungen, nur der junge Mann in der Natur, der schreibt. Das ist die Romantik.

Wird diese Vorstellung mit der Realität abgeglichen, entfällt das indische Dorf im Himalaya, und die Arbeit in der Großstadt, die ein sicheres Einkommen, die Wohnung, das Auto und gelegentliche Freizeitaktivitäten sichert, nimmt seinen Platz ein. Das ist die Wirklichkeit. Der Weg zum erfolgreichen Buchautor bleibt davon unberührt, erlebt allerdings eine Hürde; jene, den Großteil des Tages einem konkreten Beruf nachzugehen, und die wenigen freien Stunden im Anschluss in einer weniger romantischen Umgebung zum Schreiben zu nutzen.

Wenn man möchte, und sicherlich habe ich das auch schon getan, könnte die Wirklichkeit mit vielen kleinen Beschwerden gefüllt werden: Das Café ist zu laut, nach der Arbeit bin ich zu müde, in der Natur kann ich viel besser schreiben, ich habe keine Freizeit mehr, ich vernachlässige alles und jeden und so weiter.

In den naiven, romantischen Hirngespinsten gibt es all das nicht, das Dorf im Himalaya ist frei von den Beschwerden, die mir bewusst sind, aber das ist der springende Punkt, denn in der Idee existieren keine Beschwerden, die Idee ist Perfektion; dass die dünne Luft, das gewöhnungsbedürftige Essen, die schwere Verständigung, die fehlende Zweisamkeit und so weiter als reale Probleme auftreten können, davon will die Idee nichts wissen.

Hier erfolgt die ultimative Konfrontation: Ich kann nicht wissen, wie es ist, an diesem fremden Ort zu schreiben. Die Idee ist etwas Nicht-Reales, zu dem ich vordringen möchte, um es zu erfahren, und würde ich es dauerhaft nicht erfahren können, weil ich weiterhin in den Grenzen bleibe, von denen all meine Texte und all meine verräterischen, als Tatsachen dargestellten Möglichkeiten handeln, dann würde mir die Nichtumsetzung auf Dauer so sehr weh tun, dass daraus etwas Manisches wird, das manisch Unglückliche. Es entspringt unmittelbar aus dem, was wir nicht machen, zu dem wir uns aber sehnen. Es ist ein Widerspruch in sich selbst: Ich lege dar, dass mir die Romantisierung in meinem Kopf bewusst ist, weigere mich aber vehement, davon beeinflusst zu werden. Was ich nicht sehe, ist deutlich stärker als das, was ich sehe.

Also bin ich nun ein Verräter? Oder nur ein blonder, unschuldiger Bube, der aufgrund seiner realen Grenzen lieber von der Idee spricht, als von der Wirklichkeit?

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Foto (c) Kuhnograph.

18 Kommentare

  1. Wie wahr: Wunsch und Wirklichkeit liegen oft ein Stück voneinander entfernt. Doch Träume zu haben ist ganz wichtig. Und ich glaube, die kann man nur dann haben und sie sind nur dann schön, wenn man eine Lebensgrundlage geschaffen hat, die Grundbedürfnisse (Nahrung, Wohnen etc.) gedeckt sind und man sich somit soweit sorgenfrei auf Träumen konzentrieren kann.
    Find deine Texte echt toll, nicht nur vom Inhalt. Dein Schreibstil ist besonders und deine Worte berühren. Danke für den schönen Beitrag, mit dem du mich kurz aus dem Alltag entführt hast!
    lg Sarah

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    1. Du hast recht, ohne einer sicheren Grundlage wären die Träume gefährlich, beinahe zerstörerisch… doch auch selbst so sind sie mit so viel Sehnsucht erfüllt, dass ich mich frage, wie ich damit leben kann, wenn ich sie nicht (kurzfristig) umsetzen kann…
      Vielen Dank, das bedeutet mir sehr viel! Vielleicht kannst du ja eines Tages ein ganzes Buch von mir lesen 🙂

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  2. „In den naiven, romantischen Hirngespinsten gibt es all das nicht, das Dorf im Himalaya ist frei von den Beschwerden, die mir bewusst sind, aber das ist der springende Punkt, denn in der Idee existieren keine Beschwerden, die Idee ist Perfektion; dass die dünne Luft, das gewöhnungsbedürftige Essen, die schwere Verständigung, die fehlende Zweisamkeit und so weiter als reale Probleme auftreten können, davon will die Idee nichts wissen.“

    ach jim. dieser absatz ist glaube ich der wahrste kern jeder erkenntnis, die man als träumer haben kann. ich könnte romane dazu schreiben und doch wäre nicht alles dazu gesagt. ich musste jedenfalls an ein sartre-zitat denken, das eine freundin von mir vor mehr als meinem halben leben zum ersten mal in einer uralt-community veröffentlicht hatte. „Der sensible Mensch leidet nicht aus diesem oder jenem Grunde, sondern ganz allein, weil nichts auf dieser Welt seine Sehnsucht stillen kann.“ ich habe es damals nicht verstanden. ich verstehe es heute.

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    1. Ich habe das Zitat auch erst vor kurzem entdecken können, und es hat mich bis ins Mark getroffen, es ist von so unendlicher Schönheit, gleichzeitig so unerschöpflich, dass es schmerzt. Da geht es mir wie dir, ich könnte so viele Seiten drüber schreiben, würde aber nie merken können, dass mich jemand ansatzweise versteht, und da man dieser Sehnsucht ja selbst ausgeliefert ist, kann man sie als Grund akzeptieren, aber ganz verstehen vermutlich nicht.

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  3. Nach dem Studium, bzw. schon während der letzten zwei Semester, ging mir diese ganze Studiererei so auf den Geist. Ich wollte endlich genug Geld haben, nicht mehr jeden Cent zweimal umdrehen müssen, einen geregelten Tag mit „normalem“ Stresspegel haben und einfach entspannt arbeiten. Einfach mal einige Zeit keine ehrgeizigen Ziele verfolgen und einfach nur arbeiten.
    Dass du das Jobangebot dennoch angenommen hast, erscheint mir daher mehr als einleuchtend, es ist ja auch DIE Gelegenheit und Bestätigung, dass du erfolgreich in dem bist was du studiert hast.
    Der entscheidende Punkt ist, dass du es dir nicht zu bequem machst. Wenn du nach anderen Zielen strebst, dann arbeite so lange bis du dir das Polster geschaffen hast, das du brauchst um andere Ziele verfolgen zu können 😉 Ändere was dich unglücklich macht, es liegt in deiner Hand.

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    1. Danke für diese Worte, sie sind sehr motivierend und bekräftigen den Weg, den ich einschlagen möchte! Es liegt in meiner Hand, du hast recht, und wenn mich das Studium schon nicht erfüllt hat, kann ich wohl nicht ewig bei etwas bleiben, das darauf aufbaut. Dass es bei dir anders war, du nämlich dieses Ziel hattest und in der Tätigkeit Erfüllung gesehen hast, ist dasselbe, nur dass deine Sehnsucht gestillt wurde, meine dagegen nicht, außer dass es dafür Geld gibt, die in Aussicht stellt, dass wünsche und träume damit realisiert werden können 🙂

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  4. Vielleicht ist es manchmal zu früh einen Traum zu leben, zu spät ist es jedoch nie!
    Du wirst nicht aufhören zu schreiben und irgendwann wird der Zeitpunkt kommen wo du nicht mehr drüber nachdenken wirst und einfach „Ja“ zu deiner Berufung und deinem Traum sagen wirst.
    Bleib kreativ!

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  5. Oh Jim, ich verstehe dich soso gut! Immer und immer gehen auch mir ähnliche Fragen durch den Kopf. Und auch ich befinde mich in einer Situation in der die Vollzeit Arbeit einen übereinnamt. (Sagt man das so?) Wenig Freizeit, wenig Motivation vor allem Scheitern an der Umsetzung weil wir uns selber in unserem Handeln im Weg stehen. Wie aber etwas ändern? Ich glaube wir sind nicht nur Kopfmenschen die zu viel denken, anstatt zu handeln ohne groß nachzudenken, sondern auch: wir können nur dann wirklich glücklich sein, wenn wir das leben können, was wir erträumen, ersehnen und wo all unser Herzblut drin steckt. Wir sind Künstler die zu sehr zweifeln, Künstler, die manchmal so viel fühlen dass es weh tut und so viel denken dass sie am Ende gar nicht mehr wissen was sie denken. Aber eines sind wir nicht, und ganz besonders du nicht: Verräter. Nur weil ein Weg besonders schwer zu gehen, steinig und langwierig ist, bedeutet es nicht, dass du ihn nicht wirst gehen können. Deine Zeit wird kommen Jim, ich weiß das! Und ich glaube nach wie vor an dich.

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    1. Wir stehen uns selber in unserem Handeln im Weg, das ist so wahr Netti! Und ja, du hast sowas von recht, und das hast du echt schön gesagt; nur, die Mauer zwischen Sehnsucht in Gedanken und dem Handeln muss eingerissen werden. & danke, dass du weiterhin an mich glaubst! Ich werde dieses Vertrauen nicht enttäuschen 🙂
      Btw, echt tolle Fotos die du bei IG hochlädst!

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  6. Ein Verräter bist Du DEFINITIV NICHT!! Du kennst meine Meinung zu dem Thema 😉 Der Weg wird frei sein, irgendwann. Und Du bist nur dann ein Verräter wenn Du ihn dann nicht gehst. Aber Du wirst in gehen, da bin ich mir sicher. Hab Geduld…

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