Eine echte Sekunde Küstenschlaf. Das war mein erster Gedanke, als ich am nächsten Morgen in dem ranzigen Wohnzimmer der Straßenmusikergemeinde von Dublin aufwachte. Mit einem Bild im Kopf…
Die Farben des Himmels. Das Meer. Die Bäume und Sträucher in all ihrer Individualität. Der Moment auf dem Hügel, bevor ich die Küste fand; den Steinstrand, die hohe Felswand im Rücken, der erst an eine bewachsene Diagonale fast wie eine Düne vorbeilinsende, dann freie Blick auf die ruhigen Bewegungen des im Horizont zerlaufenen Meerwassers. Und die Gedanken, die mich dabei durchströmten, aus der Ferne des Bewusstseins mit der frischen Meerluft plötzlich immer klarer werdend.
Pick Pick Pick. Guten Morgen, Scheißhühner. Unglaublich übermüdet setze ich die Füße auf den staubigen Teppichboden. Aus der oberen Etage sickert coole Indiemusik zu meinen Ohren. Tag 2 in Dublin. Damit auch der letzte Tag. Eine Reise mit dezentem Kurztrip-Charakter. Was also musste der Plan sein? Alles an einem Tag erleben: Küste, Innenstadt, Pub. In der Reihenfolge ging ich es auch an, mein Ziel war der Red Rock von Dublin. Ein echter Geheimtipp, laut Insider-Magazin Insider-Magazin-Dublin-nur-für-echte-Insider-und-keine-Touristen.com
Ich holte mir einen Kaffee, nahm die Bahn etwa 40 Minuten in die Gegenrichtung der Stadt, das so typisch für mich war, ein Trip nach Dublin und die Stadt an sich interessierte mich nicht die Bohne, mal abgesehen von den sehnsüchtig erwarteten achtzehn Guinness im Pubviertel später am Tag.
Und dann begann die große Wanderung. Hätte ich gewusst, dass DREI Stunden bevorstehen, die ich zu Fuß zu diesem verdammten Red Rock zurücklegen muss, und damit einhergehend, weitere DREI Stunden Rückweg, hätte ich vermutlich meinen Rucksack mit etwas mehr als nur einem 0,2l-Orangensaft gefüllt. Der vorbereitete Wanderprofi schlechthin. Man konnte es mir zudem an den Nike-Sneakern ansehen; konnte mir keine besseren Wanderschuhe vorstellen. Nein, definitiv nicht. Auch nicht nach drei Stunden. Nö. Scheisse.
Der Vorteil zu Fuß ist, dass man alles sieht, alles erlebt, alles fühlen kann, das sich auf dem Weg zum Ziel offenbart. Ich lasse einfach mal ein paar Bilder sprechen.
Mal abgesehen von den körperlichen Schmerzen am Fußende und der drohenden Verdurstung, zuzüglich der Tatsache, dass ein 0,2l-Orangensaft für die Deckung der Mindestageszufuhr an Kohlenhydraten bei einer mehrstündigen Betätigung der Laufkomplexe im Angesicht einer steilhügeligen Wanderung nicht ansatzweise ausreicht, waren diese gefühlten 180 Kilometer ein wahrer Genuss. Immer am Wasser entlang, rechts das Meer, und direkt vor ihm eine Entdeckung nach der anderen. Ich meine, sogar Bienen habe ich fotografiert. Das war nicht einfach, ihr nervösen Hampelmännerbienen. Können nicht einmal stillsitzen. Dazu der Fokus, der sich auf alles richtete, nur nicht auf das, was ich fotografieren wollte. Gott, ich habe viel zu lange nicht fotografiert.
Dann schien sich der Weg zu lichten, der Red Rock, der aus der Ferne eher wie ein stinknormaler Grey Rock aussah, war zum Greifen nahe. Nur noch ein paar Meter. Oder Kilometer. Letztendlich auch durch Büsche, die an den vietnamesischen Dschungel erinnern, doppelt so hoch wie ich. Soll das etwa der Eingang sein für diese Attraktion? Oder war das tatsächlich so ein richtiges Insiderding, mich hier durchzuschlängeln? Keine Ahnung, wo ich lang musste, immerhin sah ich nichts außer Lianen und exotische Papageien (Spässken), aber solange ich eine Steigung unter meinen Wanderschuhen spürte, schien es die richtige Richtung zu sein; bergauf.
Selbstverständlich habe ich es dann noch geschafft, etwas über drei Stunden nachdem die Bahn mich an der Haltestelle rausgeworfen hatte, trotzdem in gefühlter Bestzeit, die Spitze des Hügels zu erreichen.
Wieder übermannt mich das Gefühl der Freiheit, des Glücks und der Einsamkeit. Der faszinierend rötliche Stein, auf dem ich saß. Das Meer unterhalb der Anhöhe, so unglaublich ruhig. Der Wind, der mich mit wahnsinnig schöner Klarheit umhüllte. Weit und Breit kein Mensch, weit und breit nur ich und die Natur Irlands, weit und breit erfüllten mich die Gedanken und der Augenblick mit solcher Wucht, das ich mit den Tränen kämpfen musste. Warum fühle ich mich nur so wohl, wenn ich alleine bin? Warum geben mir Momente wie diese so unendlich mehr als jede Sekunde meines Alltags? Ist das nicht grundsätzlich falsch? Irgendwie eine logische Konsequenz, dass mir das Bild von meinem Leben so wenig gibt, während das Bild von dem Leben, das ich führen möchte, mit einer Strahlkraft leuchtet, die es mir wahrlich schwer macht, das Leben, das was es ist, die Arbeit, das Studium, der Fußballverein, Freunde, Familie, die Liebe, mit möglichst viel Optimismus und Glück zu füllen, weshalb ich mich längst immer weiter von dem Grundsatz meines aufregendenen Daseins entferne: Die Leute in der scheiss Bahn angrinsen, damit auch sie so glücklich erscheinen, wie ich es bin.
Es wurde Zeit für meinen Orangensaft, der sich wie die Quelle des ewigen Lebens an die Innenseite meiner Kehle und in meinen Magen legte. Nach einer Stunde auf dem Red Rock machte ich mich auf dem Zurück, durch den Dschungel, das Flachland vor dem Hügel, am Wasser entlang. Im Angesichte meines expliziten Hungergefühls war ich kurz davor, bei einem der Millionäre an der Küste anzuklingeln, aber nein, ich war stark, ich kann es schaffen.
Zwei Footlong-Chicken-Teriyaki-Subs, acht Cookies und eine große Cola bitte, sagte ich, wieder in der Innenstadt angekommen, zu dem chinesischen Subway-Betreiber. Schnappte mir mein Essen, lief ein paar Meter, sah zu meiner Linken vier Milliarden Touristen auf der Hauptstraße und zu meiner Rechten einen Park, begab mich instinktiv in den Park, setzte mich auf eine harte Holzbank, aß, hörte Musik und schrieb das Notizbuch meines Smartphones voll mit all den Eindrücken, die dort auf mich einwirkten: Der Ort in Echtzeit.
Dann war der Moment für ein oder achtzehn Guinness gekommen; im ersten Pub feierten die Touristen und Teilzeit-Irländer die völlig ausrastende irische Folkband, der auch ich genüsslich an meinem ersten Schwarzbier des Tages nippend zuhörte. Bestellte ein weiteres Guinness, ließ den Blick schweifen und begab mich in das Innere des Irentums; ihr Bier, ihre Musik, total cool!
Plötzlich spielten sie Samba und ein paar Mittvierziger tanzten jauchzend an der Theke entlang, was lustig anzusehen war, vor allem aber mit einem Glücksgefühl behaftet, fremde Menschen in dieser ehrlichen Freude zu sehen, aber ich wusste, der nächste Pub wartet. Und zwar die Temple Bar: Der berühmteste Pub Irlands. Setzte mich an die Theke im hinteren von vier riesigen Räumen, bestellte mir ein Guinness und dazu einen typisch irischen Shot, der aussah wie eine Miniversion eines Guinness und wie sich später herausstellte, auf dem Namen Baby Guinness hörte, freundete mich mit den Thekennachbarn an und war völlig fasziniert von ihrer Berufung, Flugbegleiter zu sein. Von New York um die Welt, und dafür werden die auch noch stattlich bezahlt! Selbst während sie sich in einer fremden Stadt Alkohol hinter die Birne kippen. Das war extrem cool und steht nun auf meiner ToDo-Liste: Flugbegleiter werden.
Fünf Bier später meldete sich auch einmal Sean, mit der Info, er spiele gerade ein Set an der Straßenecke, ging hin, erfreute mich an den intimen Tönen des aufstrebenden Straßenmusikers, aber als ich ihm danach schon recht betrunken anbot, noch in einen weiteren Pub zu gehen, verneinte er, er müsse nach Hause. Schade. Doch im gleichen Moment meldete sich Marcus, der DJ und Comedian, aus einem Pub und lud mich zu sich. Vielleicht hätte ich auch verneinen sollen, immerhin ging morgen in recht unschöner Frühe der Flug nach Hause, aber hey, man ist nur einmal in Irland (ja ich weiß, mir diesen Grund dafür auszusuchen war quatsch, aber ich war voll und wollte noch nicht zurück). Also gab ich mir mit Marcus und seinen Musikerfreunden die Kante, wir zogen weiter, gaben uns noch mehr die Kante und irgendwann in der Nacht torkelten wir, für den Zustand typisch tiefsinnige Gespräche führend, zurück zur WG.
Was für ein Wahnsinnstag. Der Kater am nächsten Morgen am Flughafen zollte mir nachträglich Respekt dafür. Leicht übel flog ich zurück, ja, ich selbst, nicht das Flugzeug, denn ich fühlte mich frei, ich wusste, das tat mir gut, ich habe eine neue, unglaublich schöne Erinnerung…
Danke, dass ihr auch auf dieser Reise mitgelesen habt! 🙂











Hinterlasse einen Kommentar