Ich war tatsächlich in der Luft. Vor einem Tag noch am heimischen Schreibtisch sitzend, mit den ToDo-Notizen übergroß auf einem DIN-A3 Blatt vor mir, den ich in den folgenden vier freien Tagen abarbeiten wollte. Stattdessen aber packte mich die Sehnsucht nach einer weiteren Auszeit, einem weiteren kleinen Abenteuer in der Ferne. Da die Preise derart kurzfristiger Flüge, vorrangig zu beliebigen Orten in Skandinavien, mein Budget um ein Vielfaches übertrafen, gelangte ich zu einem verhältnismäßig günstigen Angebot nach London, und hey, in London war ich auch noch nie. Schnappte mir das Ticket, schnappte mir ein preiswertes Hostel und nun offenbarte sich mir kurz nach dem Start der hellrote Blutmond am Horizont über dem leuchtenden Anblick einer wunderbar friedlich erscheinenden Großstadt im Westen Deutschlands. Excuse me, is that the moon? fragte ich meinen Sitznachbar. Ich wusste nicht, dass er teilweise immer noch in diesem mysteriösen Rotton scheinen würde. Ein wenig gequält beugte ich mich schräg nach vorne, denn ich hatte ja den einzigen Platz ohne Fenster zugelost bekommen. Schon faszinierend. Auch die anderen Passagiere ließen sich erstaunliche Variationen ihrer Bewunderung für den Mond entlocken. Mich überkommt ein gewisser Bruchteil dieses Aussteiger-Gefühls, dass ich erst im Juni auf der Reise nach Norwegen gespürt habe. Und auch jetzt war ein bestimmtes Lied mein Begleiter, das mich melancholisch beschwingt zunächst zum Flughafen und dann durch die scheinbar unendlich vielen Straßen Londons führte (leider weder auf Youtube noch auf Soundcloud zu finden, also ein total exklusiver Indie-Track).
The Beach – Thieves (Klaves Remix)

Ich bin müde. Hart müde. Musste ja gestern noch bis 1 Uhr nachts alles für diesen Spontan-Trip organisieren. Und schlafen im Flieger ohne Augenbinde ist schlichtweg eine recht schwer zu meisternde Herausforderung. Nicht bei diesem grellen Kabinenlicht. Ist das gleiche wie in der Bahn, wieso wird das Licht nicht einfach mal gedämmt, ist doch viel schöner und vor allem, entspannter. Aber nein, stattdessen brennen sich grelle Lichtstrahlen durch die müden Augenlider. Und meine Kehle war am austrocknen. Dachte ich würde als Erster ein Glas Wasser gestellt bekommen, wenn ich schon in der letzten Reihe direkt bei den Stewardessen sitze. Denkste. Die Damen fahren erstmal bis ganz nach vorne mit ihrem rollbaren Sodakasten. Ich schüttele den Kopf. Ein schlimmer Gedanke, dass erst 30 Reihen á 6 Passagiere noch vor mir ihr Getränk bekommen werden. Aber was lag schon in meiner Macht? Gefühlte sechs Tage der glühenden Sahara-Sonne ausgesetzt später durfte das Schlusslicht auch endlich sein Wasser bekommen. „Would you like to have something to drink?“ Ja, unbedingt. „Ist denn noch was da?“ fragte ich leicht sarkastisch und prüfte ihre Deutschkenntnisse. „Excuse me..?“ fragte sie leicht verwirrt. „Water,“ sagte ich und fügte ein wenig gezwungen hinzu, „please“. Sie lächelte. „3€…. please“. Humor hat sie. Aber ein Scherz war das trotzdem nicht. Ausdruckslos überreiche ich ihr das Geld für diese überteuerte 0,2l Wasserflasche. Mit irgendetwas müssen die Billiganbieter ja ihr Geld verdienen… aber mit einem Grundnahrungsmittel? Das war genauso falsch wie ihr Lächeln, das wie eine unzufriedene Kaulquappe unter der 8 Kilogramm schweren Make-Up-Schicht hervorquillte. Darunter befinden sich bestimmt unzählige Stresspickel, weil dieses Dasein als Stewardess eigentlich gar nichts für sie ist. Eigentlich war sie immer dieses bodenständige Mädchen und wollte doch nur Familie, Haus, Hund und Garten, nun aber ist aus ihr ein abgehobenes Flittchen geworden dass weder beim Piloten landen kann noch einen guten Eindruck bei ihren One-Night-Stands mit schmierigen Businessmännern rund um die Welt hinterlässt, dafür aber die ein oder andere Geschlechtskrankheit. Anbei gab es noch eine Serviette, um mir den Mund abzuwischen, aber auch um dem gedanklichen Angriff auf ihre Privatsphäre ein Ende zu bereiten. Die Serviette hätte ich aber auch gut 8 Minuten eher gebraucht, als ich eines meiner raren Taschentücher für das Kaugummi opferte…
We speaks about travel
Yeah we think about the land
We smart like all peoples
Feeling real tanI could take you places
Do you need a new man?
Wipe the pollen from the faces
Make revision to a dream while you wait in the van
Kurz vor Mitternacht komme ich in London Heathrow an, lasse mir von dem stets hilfsbereiten Teilzeit-Londoner im Flugzeug noch den ungefähren Weg zum Hostel erklären und taste mich von Station zu Station durch das nächtliche London. Eingecheckt, auf’s Zimmer, ein 6-Bett-Mixed-Gender-Schlafraum, und ins metallene, minimalistische Hochbett fallen gelassen. Ein junger Chinese, dessen Bettetage von meinem leisen Radau erschüttert wurde, begrüßte mich dann doch noch etwas schlaftrunken durch die Matratzendecke und informierte mich über seinen heute endenden Aufenthalt. Good Night. Schön wär’s gewesen. Also das Good vor dem Night. Denn nur wenige Minuten später kommt ein 2 Meter Schrank durch die Tür, dessen maximale Hautpigmentierung mit seiner afrikanischen Aussprache übereinstimmte. Hey there. So weit, so gut. Aber dieser Mensch hatte sich anscheinend vor genommen, im Schlaf an den Olympiaspielen im Schnarchen teilzunehmen. Ihr glaubt es mir nicht, aber das war so unglaublich laut, dass selbst der alles zerstörende Bass eines Hardcore-Techno-Songs auf meinen mit Kopfhörern zugestöpselten Ohren nicht mithalten konnte (wenngleich ich damit sowieso nicht hätte einschlafen können, aber alles war besser als dieses Geschnarche). Wenn’s hoch kommt, habe ich in dieser Nacht 14 Minuten geschlafen, was impliziert, dass der gestandene Mann mittleren Alters, der mich entfernt an John Coffey aus The Green Mile erinnerte, keine einzige Pause einlegte. Vielleicht war das ja senegalesische Einschlafmusik und er war einfach nur ein herzensguter Mensch, aber meine Ohren waren daran kulturbedingt einfach nicht gewohnt. Auch hier musste ich das ganze tatenlos hinnehmen, nur in Gedanken versuchte ich einen Weg zu finden, das Schnarchen in eine Einhorn-Botschaft zu konvertieren:
Hey Jim, du junger Mann mit dem Kopf der in Gedanken nie die Klappe hält, weißt du noch, gestern, als du da verlegen auf deiner Couch saßt und nicht wirklich wusstest, wohin mit dir, nicht nur in diesem Moment, sondern in deinem ganzen Leben? Da habe ich gemerkt, du begräbst deine Probleme in sinnfreien Ausbrüchen aus der Realität, nicht nur indem du die Flucht nach vorne in andere Städte und Länder suchst, sondern auch durch Musik und Filme und der völligen Hilflosigkeit gegenüber dem eigenartigen Verhalten fremder und naher Menschen, das alles, dass dich entscheidend prägt, deine Stimmung, deine Gefühlslage, deine befremdliche Erscheinung wenn du da so sitzt, und man merkt es dir an, du bist in Gedanken ganz weit entfernt, und fühlst dich alleine, irgendwie alleingelassen, das willst du doch, tu nicht so als würdest du das zu verhindern versuchen. Du liest die massenhaft eintrudelnden Nachrichten auf dem Sperrbildschirm deines Smartphones, aber ignorierst sie gekonnt, warum, das weißt du selber nicht so genau, und dieses Gefühl macht dir Angst, es wirkt zu eindringlich auf deine Persönlichkeit ein, auf deine Beschaffenheit, die einer bröseligen Mauer gleichkommt, nur darauf wartend, mit einem Hammer zerschlagen zu werden, aber weißt du was, ich sag dir jetzt was, das alles, was du jetzt gerade und gestern und fast täglich fühlst, das alles, und das muss dir jetzt einmal klar werden, ist…
An dieser Stelle setzte mein vierzehnminütiger Schlaf ein, und die Botschaft des Einhorns, dessen Sinn die Deutung meines Agierens geleitet durch Gefühle sowie die anschließende wieder-auf-den-richtigen-Weg-bringende Erleuchtung darstellen sollte, verschwand in den Tiefen meines Unterbewusstseins.

Am nächsten Morgen wurden mir zwei Dinge klar: Es ist alles nicht so einfach. Und: Ich brauche einen Kaffee. Oder 9 Espresso. Für den ersten richtigen Tag in London. Der so einige Überraschungen zwischen erlebtem Glücksgefühl und unweigerlichem Frust bereit hielt…


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