Ein Flugzeug steht im plötzlich eintretendem Schneeregen auf dem Rollfeld des Flughafens, dicke nasse Flocken zeichnen im Antlitz der sich zugezogenen Wolkendecke ein Bild des Unbehagens. Die schweren Flügel ausgebreitet, der Belastung einer minimalen, zerfließenden, augenblicklich schmelzenden Schneedecke ausgesetzt, nein, sie wächst und bleibt liegen, warum, ich muss doch jetzt fliegen, in den Schnee fliegen, die Metapher im wahrsten Sinne des Wortes, nein, im Schnee fliegen, warum kommst du denn jetzt, wo ich dich so lange, so sehnsüchtig erwartet habe.
Vermummte Gestalten matschen mit nur einem offiziell zugelassenem Handgepäck neun lange Meter von der geneigten Tür des unsäglich langsam gefahrenem Flughafentransfers zur ausgefahrenen Steiltreppe des wartenden Flugzeugs. Da ich zwei Handgepäckstücke mit mir führe werde ich freundlich gebeten, eines in die Dunkelheit des Lagerraums abzugeben, was mir einfacher fällt als das vorausgehende Anbringen einer Kennzeichnungsschleife, die mir zuvor vom netten Personal eindringlich in die kalten Handflächen gedrückt wurde. Schleifen waren nie ein herausragendes Merkmal meiner Fähigkeiten, der Traum eines Seemannsdasein starb schon früh in der Mittelstufe beim erstaunten Betrachten eines in diesem Gebiet weitaus talentierterem Mitschülers. Gib her, ich versuchs. Hier haste wieder, ich kanns nicht. Die Selektion potenzieller Berufe ging teilweise erstaunlich leicht von der Hand, so leicht wie das Binden einer Seemannsschleife für den ehrlicherweise recht suspekten, weil möglicherweise unschuldig als hochtalentiert eingestuften Mitschüler.
Mein Sitznachbar, der zufälligerweise auch einer meiner besten Freunde ist, der mich auf diesem Trip in dem hohen Norden begleitet, ach was rede ich da, das ist unser Trip, saufen in fremden Hauptstädten Europas, ja er und ich, wir hatten zum Abflugzeitpunkt um 7:48 Uhr bereits drei große Bier getrunken, von Unterhopfung konnte man in dieser unmenschlichen Frühe nicht reden. Dementsprechend intensiv drückte in den ersten Flugminuten der Harndrang gegen die leicht gewölbte Bauchdecke, das sich irgendwo verbergende Sixpack kämpfte mit aller Härte gegen die Anzeichen eines Bierbauchs.
Anderthalb Stunden lagen vor uns, in der Atmosphäre oberhalb dichter, weißer Wolken, die so greifbar aussehen, so verletzlich, so einladend voller Wohlfühlgarantie, heiß durchbrannt von der aufgehenden Sonne, die ihre leuchtend roten, grellen Strahlen in das atmosphärische Dickicht der sich zusammengeschlossenen Wassertröpfchen wirft. Eiskristalle reißen dünne Striche in die doppelbeschichtete Fensterscheibe, anmutend belichtet ergeben sie ein hübsch gemaltes Bild auf scheinbar metallenem, transparenten Papier.

Wir landen behutsam auf der vereisten Rollbahn in Stockholm. Eine angenehm frische Außentemperatur von -11 Grad erzeugt beim Aussteigen eine sanfte Gänsehaut auf meinem Hals, hoch in den Nacken bis zu den Ohren. Hab ich mir kälter vorgestellt, mein erster Gedanke, bis der der erste Windzug kam. Meine lässig über die Schulter geworfene doppelbeschichtete Winterjacke, unterfüttert durch eine 2013 in Kalifornien unbedacht gekaufte Abercrombie&Fitch-Sweatjacke aus Schafwolle, entblößt den Blick auf meinem länglich gestreiften Pullover, der vorsichtshalber noch von einem weißen Langarm-Shirt mit stilistisch fragwürdigem V-Ausschnitt unterlegt die Berührung meiner Haut mit der Kälte auf ein Minimum reduzieren soll. Pack dich warm ein, ernstgenommen.
Kai’s Knieschmerzen zeugen von einem viel zu spärlichem Fußraum im Flugzeug, wie auch auf der anschließenden Busfahrt des Stockholm-Arlanda-Expresses, der immerhin zwei offensichtlich für Bier ausgelegte Halterungen für uns bereithielt. Die im Flughafen-Kiosk gekauften 0,5l-Dosen bereiteten uns zunächst dezente Kopfschmerzen, was unerwarteter Weise aber an dem geringen Alkohol-Gehalt lag, der in Schweden außerhalb selten auffindbarer Liquor-Läden bei nur 3,5% liegt. Geschmacklich konnte man das Gebräu der schwedischen Marke Falcon irgendwo zwischen abgelaufenem Eistee und einer in kohlensäurearmem Bier eingelegten Zigarettenschachtel einordnen, den Preis dagegen irgendwo zwischen unseriösem Hochadel und Start-Up-Milliönar. Unsere Befürchtung, dass Schweden eine unfassbar teure Preiskultur pflegt, wird sich fortan für die nächsten drei Tage bei jedem einzelnen Zücken der langsam depressiv werdenden Kreditkarte bewahrheiten.
Unser Motel war bunt, weltoffen und zentral gelegen, günstig, ausgezeichnet und tripadvisor-Tipp. Einladend, würde man meinen, eine Architektur, die auf jede Kultur vermeintlich hipp wirken will und tatsächlich erfreulich modern entlang einer unendlichen Gebäudereihe und den kristallenen Straßenbahngleisen sein buchbares Dasein fristet. Der in lila-rötlichem Licht getränkte Gang mit gelblich-schimmerndem Teppichboden im dritten Stock erinnert entfernt an die Vorstellung eines Laufhauses. Zu der linken Seite, exotische Exemplare mit asiatischen Gewänden, zur rechten Seite die etwas unsanft vorgehenden Lederfetischisten. Eine recht unsensible Vorstellung, wie ich zugeben muss, doch bewegte ich meine Schließkarte etwas zögerlich in das technologisierte Türschloss in der Hoffnung, dass man uns nicht erwartete, denn unser Zimmer lag auf der rechten Seite. Doch die Luft war rein, die Geheimagenten-Imitation völlig umsonst und die zwei Einzelbetten so wundervoll hygienisch hergerichtet, dass man meinen könnte, hier wäre kurz zuvor…
die Putzfrau gewesen. Beziehungsweise the cleaning lady, eine undeutlich nuschelnde Frau mittleren Alters im weißen Brautkleid-Gewand für Minimalisten, bei der ich mir sicher war, dass sie eine weiße Weste trug, sie war ganz bestimmt vollkommen clean. Nicht, dass wir einen äußerst eloquenten Dialog führen konnten, denn es beschränkte sich täglich auf eine zweimal in den frühen Morgenstunden vorkommende, rein auditive Begegnung mit folgendem Ablauf: (Es klopft) Hello? – We are sleeping, sorry! – Oh, sorry! – Sorry! – sajfgdh (schließt nuschelnd die Tür).
Das Zimmer war klein, aber schön. Ein hochkant konstruiertes Panorama-Fenster lässt den Blick über die anliegenden Gebäude schweifen. Alles ist mit Schnee bedeckt. Herrlich. Ich logge mich instinktiv in das Motel-WLAN ein und erfahre in einer ungemein befriedigenden Kurznachricht, dass der Schnee in Deutschland nicht liegen bleibt. Hätte mich auch schwarz geärgert, wenn ich ausgerechnet dann nicht zuhause gewesen wäre. Zuhause. Ha! Wer will schon zuhause sein.

Eigentlich will ich ja nicht zu sehr ins Detail gehen, ich bin kein Fan von Reisetagebüchern, die minutiös und steril den Ablauf beschreiben, so in etwa wie: Zuerst sind wir essen gegangen. Brathähnchen mit Pommes. Lecker. Dann sind wir in ein angesagtes Café gegangen. Starbucks Stockholm. Da habe ich einen Cappuccino mit Karamell getrunken. So viel besser als in Deutschland!!!! Dann haben wir einen Mittagsschlaf gemacht, weil wir im Flugzeug nicht schlafen konnten. Am Abend haben wir dann noch eine Busfahrt gemacht. Der Reiseführer hatte eine total komische Stimme!! Mir war so langweilig, dass ich noch mehr geschlafen habe. Aber Stockholm ist die schönste Stadt der Welt!! Ihr alle habt was verpasst!
Doch aber muss ich in gewisser Metaphorik gestehen, dass zwei Augenpaare kurzschlossen und sich im Einvernehmen auf das anschließende Betrinken vorbereiteten. Das nervtötende Radar unserer beider iPhone-Wecker lässt uns im tiefschwarzen Schein des spätabendlichen Nachthimmels schließlich aus dem Tiefschlaf erwecken, hey sage ich, ich hab‘ Luft im Glas, gib mir ’ne Kanne, und er sagt, hey, meine Kehle brennt, ich brauch auch ’ne Kanne, was quasi der zielführende Dialog für die weiterführende Reiseplanung darstellt. Die Dosen knirschen und knacken, wir sitzen zischend für zwei kurze Stunden auf dem Bett und trinken unter dem Zwang etlicher Trinkspiele, die letztendlich so banal wie genial implizierten, dass wir hier keine Touristen im eigentlichen Sinne sind. Irgendwie ein sehr seltsames Verhalten. Da fliegt man eintausend Kilometer weit und benimmt sich wie daheim, ein Abtun der Verhaltensnorm war hier nicht zu beobachten. Viele Touristen drängeln sich quasi in einen Rausch der erzwungenen Bewunderung, immerhin sind sie so weit weg von zuhause und sie haben viel Geld bezahlt, alles muss so schön und aufregend sein und jede Sekunde des unproduktiven Nichtstun im Sinne vermiedener Sightseeing-Aktivitäten gilt als unwiderrufbar verloren, als schreckliche Farce, wenngleich ich doch glaube, im Unterbewusstsein wünscht sich das aufgebrachte Gemüt Momente wie diesen, wo man so weit weg von zuhause sich nicht unbedingt anders verhalten muss, als das man es gewohnt ist.
Gewohnheit. Von Zuhause weg sein. Unvereinbare Begriffe. Doch genau aus diesem Grund überhöht das „von Zuhause weg sein“ die Realität in eine schöne Märchenwelt ohne tatsächlich existierende Probleme. Ebenso wie das Trinken. Dies soll beileibe keine Hommage an das Besäufnis sein, lediglich eine wahnwitzige Achterbahnfahrt auf den Schienen des Glücks, während ein schaumiger Rinnsal die Mundwinkel herunterläuft, erscheint es einem wie eine konsumgetriebene Schublade mit der schrecklichen Bezeichnung „Ausnahme“, denn man ist ja nicht alle Tage weg. Zuhause weg sein muss demnach nicht unbedingt von rein touristischem Interesse sein, vielleicht genügt schon das Bewusstsein, überhaupt von Zuhause weg zu sein, weit weg vom Alltag, der mal weniger, mal mehr an einem nagt. Mir kommt es so vor, als würde jeder weitere Kilometer, der sich zwischen mir und der Heimat drängt, ein belebendes Beben der Synapsen sein, sodass sich kleine Spalten in dem Konstrukt der Gewohnheit auftun, durch die man hindurch schlüpft, oder gesogen wird, aufgesogen, ein schwarzes Loch mit buntem Licht gefüllt, mit Hoffnung, dem Glücklichsein, dem echten Leben.
Der Club in den wir gingen war prall gefüllt mit aufgeblasenen Menschen, mit Hemden und aufgeknöpftem Kragen. Der Schweiß lief in der Wärme der zuckenden Lichter die Stirn herab, ebenso wie einzelne Perlentropfen auf stolz transportierten Champagnerflaschen. Hübsche, blonde Schwedinnen genossen die Aufmerksamkeit buhlender junger Männer, die ihr Portmonee auf dem Gesicht trugen und wenn kein Bargeldschein zu sehen war, suchten sie nach fuchtelnden Kreditkarten, um deren Arm sie sich in markant charmanter Manier warfen.
An diesem Abend sprach ich mit exakt einem Mädchen. Schwedin sei sie, hätte ich nicht gedacht sagte ich. Flüssiges Englischverständnis trug unmissverständlich dazu bei, dass ich weder bereit war, ihr trotz ihrer unfassbarer Schönheit einen Drink auszugeben, noch die Absicht besaß, sie mit ins Motel zu nehmen. Als sie aber ihren Namen aussprach, stockte ich. Dieses eine Mädchen, dass ich in Schweden kennenlernte, hieß genau wie das Mädchen in Norwegen, die Einzige, die ich in Norwegen kennenlernte. Instinktiv suche ich nach einer rationalen Erklärung, doch so etwas ist nicht rational erklärbar, ich musste nur mit meinem Verstand klären, wie ich die Situation deuten sollte, als Zufall abtun, als bedeutender Wink des Unerklärlichen, nein, als Zufall, ich musste, worauf wäre es denn sonst auch hinaus gelaufen, ja, nur ein Zufall. Wir alle tanzten ausgelassen bis in die frühen Morgenstunden, bis der Club uns in die Kälte hinauswarf.

Ein leicht erschrockener Blick in die leere Geldbörse suggerierte uns mit leicht verkaterten, angestrengt blinzelnden Augen zur wahrgenommenen Mittagssonne beim routinierten Thunfischpizza-Urlaubsfrühstück ein gewisses Maß des erhöhten Alkoholkonsums unter völliger Ignoranz der astronomischen Preise im Rausche der Feierei in der Residenz einer mittelklassigen Diskothek. Dem Bargeld fehlte es am nächsten Tag deutlich an Präsenz, während die Kreditkarte schmerzlich locker auf den gefrorenen Fingerspitzen unterhalb des absolut nichtsnutzigen Handschuhs mit – betone – laut Herstellerangaben präziser Eignung für extreme Kälte, anhaftete, so als würde man mit seiner Zunge an der eisigen Oberfläche einer Laterne stecken bleiben und immer einen Schrei des Schmerzes beim Abreißen von sich gibt, nur um es wieder und wieder zu probieren. Das Geld floss geradezu Strom abwärts, vom goldenen Identifikationschip des rechteckigen Plastikmoduls in den gefräßigen Schlitz der überall anzutreffenden Bezahlungsmaschinen. Wirklich mal, die Preise sind unmenschlich. Doch da sich die Schulden vorerst nur digital anhäuften, gab es keine Barrieren. Olymp!
Das wirklich große Abenteuer in diesen drei Tagen in der Winterkälte Schwedens blieb aus, wir vergnügten uns mit dem Trinken von Bier im Angesicht bedeutender Sehenswürdigkeiten, dachten uns bizarre Trinkspiele in den nicht ganz so tiefen, vereisten Schneemassen aus, brachten unsere Konsumkapazitäten an den Rand des Möglichen, wie junge Götter speisten und tranken wir, und wir feierten, jeden Abend, bis tief in die Nacht, wir feierten so ausgelassen und ausschweifend, als würde jeder Morgen nur darauf abzielen, einen endgültigen Schlussstrich unter das jugendliche Balsam zu ziehen, so als könnte es passieren, dass man unseren losen Sinn für die Ernsthaftigkeit wegnehmen müsse.
Wir verabschiedeten uns herzlich und noch immer mit einem leicht angetrunkenen Adieú von Stockholm, diese wirklich schöne Stadt, mit wundervollen alten Gebäuden, toll inszeniert durch warmherzige Sonnenuntergänge in der glasigen, durchaus aber nicht unangenehmen Kälte und diesen ganzen unglaublich schick angezogenen Menschen, die ihren Style vermutlich angeboren bekommen und machten es uns in der für eine Kurzstrecke recht prächtigen Flugmaschine gemütlich…
Liebe Grüße,
Jim Kopf

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