Liebes Unterbewusstsein,
dich gibt es, seit es mich gibt. Wir koexistieren seit über zwanzig Jahren, ich, mein Bewusstsein, und du, mein Unterbewusstsein. Wir leben nicht erst, seit wir denken können, die fragmentarische Wahrnehmung teilte sich schon bei unserem ersten Augenschlag in uns auf. Vielleicht bist du sogar älter, während mein Bewusstsein noch schlief, hast du instinktiv gehandelt, mich am Leben gehalten, du hast mein Herz schlagen lassen und den Willen aufgebracht, heranzuwachsen, zu etwas Echtem, zu etwas Greifbarem.
Ich wachte auf und sah meine Mutter, ich muss Schweiß und verfilzte Haare gesehen haben, die an meiner nassen und weichen Wange klebten, ich war überfordert und schrie gegen die Masse meiner Sinneseindrücke an, doch du musst alles klar und deutlich gesehen haben, das Lächeln auf ihren Lippen, das tränenunterlaufende Leuchten in ihren funkelnden Augen, die dir vom ersten Augenblick an die einzige Vertrautheit symbolisierten, die für uns existierte. Unsere zarten Füße lagen wohlbehütet in der kalten Handfläche des Vaters, zwei Finger der anderen Hand strichen über die minimalen Ausprägungen am Knöchel, das Gold des Eherings blitzte in den wenigen Sonnenstrahlen, die durch den nicht vollständig zugezogenen Vorhang in das Innere des Zimmers strömten. Du nahmst vermutlich das angestrengte Schlucken, den getrockneten Speichel und das erschöpfte Atmen unserer Eltern wahr, das ich mit meinem Kreischen und Keuchen und meiner Art, Lebendigkeit auszudrücken, laut und schallend durchdrang, wie eine Nebelbank aus grellen Tönen legte sich mein Geschrei auf die Ohren, auf Papas, auf Mamas. Es bedeutete nichts und alles, ein Moment der Unendlichkeit, der sich bis zum Tau des alles Neuem hinauszögerte, Sekunden und Minuten verstrichen in der kreisrunden Wanduhr in immerderselben Richtung, das Menschliche auf diesen wenigen Quadratmetern des Raumes beflügelte ein Außerachtlassen des zeitlichen Denkens, sie war unwichtig und nichtssagend, das Glück bündelte sich auf einer unerklärbaren Ebene außerhalb von Raum und Zeit, außerhalb jeglicher Gedanken, sie waren leer und doch erfüllt von einem unermessbar reichen Gefühl des Sinns und des Wertes, den jeder für sich im Unterbewussten mit diesem Ereignis verband.
Ich möchte dir danken, dass du es mich wissen lässt, dass du mich so über meinen Start ins Leben denken lässt. So viele Jahre ist es her, die Zeit hat schon längst wieder seinen Platz im Leben erkämpft, Phasen, in denen ich dich betäubte, mit allem nur nichts Relevantem, wechselten sich mit Phasen, in denen ich dir Gehör schenkte, dir nachdenklich zuhörte. Es war und ist ein ständiger Schlagabtausch zwischen dem, was ich bewusst wahrnehme und dem, was ich im Unbewussten wahrnehme. Die Frage, was von Beidem ich mit einem höheren Wert belege, bohrt sich wie ein wiederkehrender Regenschauer in mein Dasein, früher und heute, doch nicht damals, als beides auf der gleichen Ebene funktionierte, im Einklang, die pure Harmonie, damals, als alles einen Sinn ergab. Was ich wollte und was ich tat, was ich fühlte und was ich sah war das Resultat einer gemeinsamen Entscheidung, beinahe wie ein Instinkt, der mich durchs Leben lenkte. Doch unsere Brüderlichkeit verflüchtigte sich mit den Jahren, das Bewusstsein schlug sich zu meinem Verstand durch, das Unterbewusstsein in die Nähe meines Herzens, wo es auch im Ursprung meines Leben wohnte.
Ich würde dich so gerne wieder in der Mitte treffen, liebes Unterbewusstsein. An einem Ort, an dem wir sehen was wir fühlen, an dem wir machen was wir denken, an dem der Übergang des Wachseins und des Schlafes fließend ist, an dem Werte auf dem Sinn aufbauen, den ich in alles Nahem und in alles Weitem sehen kann und sehen will, ich möchte das Verstehen deiner Gedanken in Handlungen und Aktionen münden lassen, ich möchte das Unfähige aus meinem Alltag verbannen und mich auf das Mögliche konzentrieren, und lass uns den Ort nicht anhand von Kriterien festmachen, lass uns dorthin schweben, getragen werden, ohne zu verkrampfen, ohne essentielle Bestandteile aufgeben zu müssen, lass uns wohl fühlen, wo wir sind, um glücklich zu sein, wo wir uns wiedersehen.
Vielleicht ist dieser Ort ja doch genau dort, wo sich unser Körper gerade befindet. Liebes Unterbewusstsein, lass die Sehnsucht hier zu bleiben stärker sein als die Sehnsucht fortzugehen. Erst wenn wir beide das Hier zu schätzen wissen, können wir das Ferne, das Weite, das Neue anstreben. Darin sehe ich den Knackpunkt des Moments, denn finde ich diesen ausgewogenen Ort nicht, werde ich daran immer und immer wieder, von Woche zu Woche, von Tag zu Tag, krankhaft verzweifeln. Finde ich diesen Ort in mir aber doch, wird es wie bei der Geburt sein: Alles ist mit Sinn erfüllt.

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