11 Tage? Ernsthaft? Kein geschriebenes Wort in 11 Tagen? So viel Nichtgeschriebenes erinnert mich an… ähm… die Woche davor. Ihr wisst schon, da wo ich auch nichts zustande bekommen habe. Und die Woche davor. Langsam mache ich mir Sorgen. Sollte ich zum Arzt gehen? Mir irgendetwas diagnostizieren lassen, etwas wie „chronische Geistesabwesenheit“ oder „Verbalinkontinenz“, weil mir das Wörterlassen so schwer fällt.
Gehen wir einen möglichen Arztbesuch durch. Jim prügelt sich um 06:30 Uhr todesmüde aus dem fünfstündigen Schlaf, ich musste ja noch bis kurz nach halb 2 nachdenken. Menschen schauen Fernsehen, Menschen spielen Videospiele, Menschen lesen Bücher. Jim denkt nach. Ich erstelle mir einen gedanklichen Notizzettel und schreibe in siebenunddreißig Stichpunkten meine Beschwerden auf. Der Brustkorb! Die Lendenwirbel! Die Nieren! Kopfschmerzen, heute, und gestern auch! Schnupfen, schon seit immer!!!
Es wäre gelogen, wenn ich nicht ans googeln denken würde. Nur kurz in die Suchleiste eingeben, was mich belastet. Aber Google ist brutal. Haste Schnupfen? Stirbste spätestens Ende der Woche. Zwickt der kleine Zeh? Haste Krebs. Was könnte ein roter kleiner Punkt auf der Wange sein? Tomatensoße. Oder auch Krebs.
Zombieähnlich fahre ich zum Arzt, wo schon dreihundert andere Patienten auf den Einlass warten. Zur linken die Omi’s, die jeden Tag herkommen und sich zu kleinen Gruppen zusammengeschlossen haben, man kennt sich und schätzt sich. Bestimmt haben sie ihre Zelte direkt im Park gegenüber dem Arztgebäude aufgeschlagen, wie kann man denn so verdammt früh dran sein? Zur rechten die Patienten unterschiedlicher Altersgruppen, alle zueinander anonym, der eine mit Gips am Arm oder am Fuß, der andere mit Krücken oder Rollstuhl. Zu guter Letzt die Gruppe in der Mitte, solche, die nicht wissen, was los ist, mit ihrem Körper, solche, die zu viel gegoogelt haben und dementsprechend nervös bis angespannt auf den Arztbesuch reagieren.
Neuneinhalb Stunden später werde ich zaghaft aufgerufen, in diesem leicht genervten Grundton, aufgrund der dreimaligen Bitte, nicht alle Patienten VORzulassen, die erst NACH mir gekommen sind, ich muss zur Arbeit. Aber hey, eigentlich bin ich kein Wutbürger, der sich darüber aufregt, nein, ich verarbeite diese Ungerechtigkeit lieber im Stillen, in Gedanken, da fahre ich mit der Alaska Railroad von Anchorage nach Fairbanks, während die ereignisarme Landschaft mit seinen Bäumen und Wäldern und den Bergen am Horizont, oben hellweiß, in der Mitte grau und steinig, unten dichtgrün bewachsen, im Sonnenlicht an mir vorbeirauscht.
Der Arzt sagt, leg dich hin, zieh dich aus, ja, auch die Socken, ich sage, verstehe, und er tastet meinen Oberkörper ab. Alles normal. Hört den Herzschlag ab. Alles normal. Testet den Blutdruck. Alles normal. Macht ein EKG. Alles normal. Hast du etwas, dass dich in letzter Zeit psychisch sehr belastet?
Gerne hätte ich gesagt, Ja Herr Arzt, das ist die richtige Frage. Mich belastet, dass ich weiterhin im beschissenen Deutschland dahinvegetiere. Dass Mama und Papa sich scheiden lassen. Dass Opa gestorben ist. Dass die Vergangenheit wie ein tonnenschwerer Stein auf mir lastet. Dass ich Papa so selten sehe. Dass ich meine Freundin so selten sehe. Dass ich letztes Wochenende wieder so atomvoll nach Hause getorkelt bin. Dass alle Blicke so voller Wertung sind. Dass ich zu wenig schlafe. Dass Mama einsam ist. Dass Oma einsam ist. Und verdammt, dass ich Schmerzen habe, hier, hier und hier!
Ich kämpfe. Wir alle kämpfen.
Sage aber, dass alles okay sei, dass es keine wirklich großen psychischen Belastungen gäbe. Irgendwo stimmt das auch, es liegt nur an mir, wie ich mit all diesen realen und gedanklichen Problemen umgehe. Wie ich selbst über mich sage: Es gibt Tage, da grinse ich jeden Bahnfahrer an, in der Hoffnung, ihn mit einem Funken Glücklichsein anzustecken. Aber auch Tage, da ziehe ich mich in meine Gedanken zurück. Klar, ersteres macht den Alltag lebenswert, aber zweites außer Acht zu lassen, um ersteres zu erreichen, ist ein Übel, dass ich nicht in Kauf nehmen kann und nicht nehmen will. Das wäre nicht Ich.
Anschließend verschreibt er mir spezielle Globuli, homöopathische Kügelchen „gegen Depression und Schmerzen“. Ich rede mir ein, dass ich daran glaube, an diese Zuckerkugeln. Sie werden mich heilen.
Kurzfristig heilen tun mich aber nur die sechs Nutella-Toast, die ich mir nach dem Arztbesuch reinschaufele. Rufe meine Freundin an, der Arzt hat nix gefunden, ok?, ok. Setze mich an den PC, schneide ein paar Videos, schreibe einem Kollegen, kommst vorbei?, wir trinken Bier, werfen Metallpfeile auf die Dartscheibe und hören so laut Musik, dass gegen 23 Uhr eine verärgerte Nachbarin anklingelt und mir unmissverständlich klar macht, dass „manche Menschen morgen arbeiten gehen müssen“.
Vor dem Schlafengehen nehme ich eine dieser winzigen Zuckerkugeln. Anvisitatio Quadrufugum. Oder so.

Hinterlasse eine Antwort zu zoejane2 Antwort abbrechen