Der Drang zu schreiben nimmt Überhand. Jetzt in diesem Moment sind sie da, diese Wolken voller Wörter, die zusammengefügt werden wollen. Ein Schreibgewitter loslassen. Nervös tippt mein rechter Fuß auf den Boden, mitten im Vorlesungsraum der Universität, ich werde angefaucht Junge!, halt Still, doch ich kann nicht, obwohl ich selbst nichts weniger leiden kann als zappelnde Kommilitonen. Nichts entgegne ich, will nur schreiben. Schreiben und lesen. Den ganzen Tag. Lesen von Knausgård, Kierkegaard und Hamsun, von Blaise Pascal und Tolstoi, von Jack London und James Joyce, und verdammt, natürlich von David Foster Wallace und Marcel Proust. Mich inspirieren lassen, besser werden, schreiben wie sie. Eine unerreichbare Vision, aber eine Vision. Eine Vision muss man haben.
Irgendwann war sie da, am Anfang der ersten Jahreshälfte, diese Vision. Ich werde mein eigenes Buch veröffentlichen. Und um jetzt so richtig dramatisch zu werden: Wie von Gotteshand berührt schlug die Buchidee kurze Zeit später auf mich ein und legte das komplette Konzept zwischen die nichtsahnenden Synapsen. Kein Scherz! Dabei war ich so lange nicht in der Kirche. Und gebetet habe ich auch lange nicht. Doch war alles klar, hell erleuchtet, der Anfang, das Ende, vor allem alles, worüber ich schreiben werden würde, alles leuchtete, alles war möglich…
80 Seiten in fünf Monaten.
Knausgård schrieb den 800 Seiten starken fünften Band seines autobiografisches Kampfes mit sich selbst innerhalb von 8 Wochen. ACHT WOCHEN! Ich bin seit 20 Wochen dabei und habe gerade einmal ein Zehntel davon geschafft. Nicht dass ich 800 Seiten anstrebe, doch dämpft es die Euphorie erheblich. Jetzt hatte ich kürzlich ein inspirierendes Gespräch, in dem es unter anderem darum ging, sich nicht mit anderen vergleichen zu sollen; das mache nur unglücklich. Wohl wahr: Warum sollte ein junger Mann Anfang 20 sich mit einem der erfolgreichsten norwegischen Autoren aller Zeiten vergleichen? Ebenso wenig wie mit Klaus, dem videospielsüchtigen Sitznachbar, dessen Höchstleistung der letzten Jahre an einer einzelnen Spaghetti abzulesen ist; wenn überhaupt finden sich auf der glatten Oberfläche ein Rest von der Tomatensauce und drei bis acht Käsekörner des feingeriebenen Mirácoli-Parmesans. Worauf ich hinaus will? Keine Ahnung. Aber Vergleiche sind scheiße.
Gehen wir auf Ursachenforschung. Tagsüber gehe ich arbeiten oder in die Uni. Das macht mir sehr viel Spaß. Dann gehe ich zum Training. Das macht mir auch sehr viel Spaß. Am Abend bin ich so müde, dass ich nur noch ins Bett will. Das ist das Schönste. Einfach Schlafengehen.
= Ich sterbe jeden Tag.
Dabei pinkelt der Gedanke an einen alternativen Alltag Regenbogen. Aufwachen, Lesen, Schreiben, Reisen, Lesen, Schreiben, Schlafen, ja ok, Lieben, Schlafen, Reisen, Lesen, Schreiben. Der Grundgedanke: Mein Leben wäre wie eine Harfe, und Bücher zu lesen und zu schreiben wären wie Finger, die über die Saiten gleiten (frei nach Joyce). Sprich: Jim in einem weit entfernten Land, er sitzt an seinem Schreibtisch, und wenn er nicht schreibt, genießt er die Natur oder spielt Klavier. Jim ist alleine. Die Ureinwohnerin im sympathischen Holzfällerhemd von letzter Nacht ist nicht bei ihm in seiner einsamen Holzhütte am Stadtrand geblieben. Vielleicht macht Jim Youtube-Videos, lässt alle an seinem vermeintlich fantastischen Leben teilhaben und gibt vor, nicht alleine zu sein. Wie dem auch sei. Ist das meine Bestimmung? Der vorgesehene Lebensweg? Vor allem aber: Ist das die Antwort auf das innere, alles einnehmende Bedürfnis, etwas Außergewöhnliches aus meinem Leben zu machen?
Doch dann, ganz plötzlich, wird alles umgeworfen. Ein Auslöser reicht, vielleicht die Liebe, vielleicht eine völlig neue Inspirationsquelle, vielleicht ein Erlebnis, und dann sehe ich alles in einem gänzlich anderen Licht. Ein dingliches Licht mit lächelnden Mundwinkeln und fröhlichen Stimmbändern, das mich eindringlich anschreit: Scheiße, du willst dich doch mit Freunden betrinken, du willst einen Bowlingabend, du willst das Mädchen treffen und mit ihr die Nacht verbringen, du willst ins Kino gehen, du willst mit deiner Familie grillen, du willst ins Theater, ins Freibad, ins Museum, du willst dich in ein Café setzen, in einem guten Restaurant essen, du willst einen Filmeabend machen und Chicken Wings futtern, du willst Livemusik hören und tanzen, du willst feiern, genießen, lieben, leben.
Da frag ich mich doch glatt: Muss ich in die Einsamkeit eines fremden Landes, um meine Erfüllung zu finden? Und was ist meine Erfüllung? Wirklich ein Buch schreiben? Lesen und Schreiben und Klavier spielen und alleine sein, den ganzen Tag? Oder Karriere machen in meiner Werbebranche? Marketingstrategien entwickeln und Awards gewinnen? Arbeiten und Sport und Freunde und Freundin? Normal sein? Und verdammt, kann ich denn auch mit einem normalen Alltag außergewöhnlich sein?
An Tagen wie gestern kenne ich die Antwort auf all diese Fragen. Früh morgens stolpere ich schlaftrunken in die Küche, setze den Kaffee auf und trete auf eine Nudel. Hebe meinen Fuß, ziehe sie von der Haut, mache ein Foto von der Nudel und schicke es einer Freundin mit dem Hashtag #thesmallthingsinlife. Da fiel es mir auf: Ich lächelte. Nein, ich lachte! Ich lachte und wusste, das wird ein guter Tag.
Ich hatte trotzdem Uni. Ich musste trotzdem zum Training. Aber ich tat es mit einem Lächeln. Ja verdammt, ich hab sogar die Leute in der Bahn angelächelt. Einer lächelte zurück. Das reichte, denn ich wusste: So wird man glücklich.

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