Der irische Freund eines irischen Freundes öffnete mir in Dublin, 20 Gehminuten von der milliardenfach von Touristen belagerten Hauptstraße entfernt, die ranzige Haustür einer schmalen Doppelhaushälfte. Er sagte Hi, ich sagte Hi, er zeigte mir meine Schlafcouch, auf der vier Tonnen Straßenmusiker-Equipment lagerten, mit dem Hinweis, er werde das sicherlich nachher noch aufräumen. Dann schritt er wieder die Treppe hinauf in sein Zimmer und ließ mich alleine. So far, so cool!
Und nu? Verloren stand ich in der Mitte des Raumes und beobachtete das Chaos der Räumlichkeit. Aber ich wollte mich nicht anstellen, immerhin musste ich für die Couch nichts bezahlen. In dem Moment durchbrachen gackernde Hühner die Stille, zwei selbstgezüchtete Gockel standen vor der Tür neben der Couch und pickten aggressiv an das Glas. Selbstverständlich haben die beiden Scheisshühner dieses Prozedere noch die ganze Nacht durchgezogen. Gut, dass ich die Reise fit und ausgeschlafen angetreten habe; man konnte es mir an den todesroten, blutunterlaufenden Auge ansehen.
Aber mal der Reihe nach. Ich lass‘ mich auf ’nen Sessel fallen, dezent viel Staub wirbelt auf, und google im Angesicht einer sich anbahnenden Atemwegserkrankung „Dublin Sehenswürdigkeiten“. Ha! 19:30 Uhr, ich sitze in Dublin in einem fremden Wohnzimmer und komme auf die grandiose Idee, mal zu sehen, was es so in Dublin eigentlich gibt. Leider aber interessierten mich alle aufgeführten Must-See’s – pardon – einen Scheiß. Also google ich „Dublin lonely coast with no tourists“, schreite zur Tür hinaus, nehme die Bahn, fahre etwa eine halbe Stunde, nehme den Bus, fahre etwa eine halbe Stunde und siehe da: Nix. Keine Küste in Sicht, ein paar Häuser, dort drüben ein verirrtes Schaf. Ein Hügel im Nirgendwo. Verdammt!
Doch da… sehen meine Augen richtig? Ist das etwa… ein Pub? Geil. Muss wohl verdammt populär sein, hier, so weit außerhalb der Stadt. Ich vermutete, kurz vor dem Eintreten, drei Schafe und vier Rentner anzutreffen. Bis auf die Schafe sollte ich Recht behalten, dafür war die Kellnerin eine hübsch anzusehende Brünette mit langen, man glaubt es kaum, braunen Haaren. Hiiiiiii, one Guinness please :))))
Und da war es: Das allererste Guinness in Irland meines Lebens. Ein Wahnsinnsgefühl. Dementsprechend zügig leerte ich das vollmundig schmeckende Glas, erkundete mich nach dem richtigen Weg zur Küste, sie sagte irgendetwas, dessen Inhalt ihrem übertrieben irischen Akzent zum Opfer fiel, ich grinste über beide Ohren, sagte Dinge wie „oh cool“, „nice“, „sounds good“ und „thank you“ und verließ den Pub ohne einen blassen Schimmer zu haben, wo denn jetzt die verdammte Küste ist.
Kurz nach Sonnenuntergang sollte ich sie aber dann doch gefunden haben, und ja, Google Maps ist mein bester Freund! Die Datenroaming-Gebühren dagegen nicht. Aber was war das für ein schöner Moment! Ein kilometerlanger Küstenabschnitt mit einem sandigen Steinstrand, das dunkelblaue Meer, der dunkelblaue Himmel, nur ich und kein einziger Mensch weit und breit. Kopfhörer auf, Musik an, Dublin fühlen. Vor allem aber fühlen, wie die verschiedensten Gedanken auf mich wirken; nicht ohne Grund sitze ich mal wieder weit weg von zuhause, alleine, ohne dass ich jemanden gefragt habe, ob er oder sie mich begleiten möchte. Ich musste einfach wieder alleine sein, anders kann ich das Wirrwarr in meinem Kopf nicht entknoten, und es musste einfach wieder weit weg sein, denn zuhause, in den eigenen vier Wänden funktioniert das einfach nicht. Nahezu fühlte ich in den fast drei Stunden, in denen ich regungslos, mal abgesehen von ein paar geschossenen Fotos, auf den Steinen saß, wie ich mit der Umgebung zerfloss, wie mich die Geborgenheit des Anblicks in einen Schleier des Glücks einhüllte, ich fühlte mich frei, frei und in dieser Einsamkeit vollkommen glücklich. Das brauchte ich. Frische Küstenluft, ein gleichmäßig, aber nie vorhersehbares Aufbäumen des ruhigen, am Horizont in den Himmel überlaufenden Meeres und die harte Wand der Küste in meinem Rücken, die mir das Gefühl gab, vor dem Alltag und den vielen Menschen geschützt zu werden.
Im Volldunkel der Nacht bahnte ich mir den Weg zurück zum Haus meiner neugewonnenen Freunde, führte den Schlüssel in das Eingangstor, welches sich problemlos öffnen, nicht aber problemlos wieder schließen ließ. Also ehrlich gesagt, gar nicht schließen ließ. Scheisse. Immerhin stand ich da mittlerweile schon seit 10 Minuten und schüttelte das Eisentor in einer Härte, die vermutlich die ganze Nachbarschaft hätte aufwecken müssen, nichts funktionierte, ich rüttelte daran wie ein Einbrecher, der sich zu einem Gelände gewaltsam Zutritt verschaffen wollte. Die Mitbewohner des Hauses schienen zu schlafen und ich sehnte mich nach meinem Ein-Personen-Zelt, in dem ich in Norwegen geschlafen hatte. Wildcampen in Dublin, das wär mal was.
Ich lehnte das Tor an, ging ins Haus und siehe da, das Wohnzimmer sah unverändert aus. Also nahm ich mir die Freiheit, aufzuräumen, zumindest notdürftig, wobei mich das teils wuchtig schwere Equipment ordentlich zum schwitzen brachte, suchte den Lichtschalter für das Deckenlicht der türlosen Küche, fand ihn nicht und gab auf, schnappte mir eine ca. 4 Millimeter dünne Decke und ein ca. 8x8cm großes Kopfkissen, muckelte mich in Embryonalstellung auf die betonharte Couch, vermutlich ein Unikat der irischen Unterschicht aus dem 14. Jahrhundert, ein Gockel pickte an das Glas und wünschte mir somit eine gute Nacht, ich sagte, Halt’s Maul und lass mich schlafen, nur noch kurz das iPhone laden, denkste, denn das Steckersystem der Iren unterscheidet sich von dem der Deutschen, das kam so überraschend wie diese komische irische Ureinwohnersprache, die überall neben dem normalen Englisch geschrieben steht und sich anhört wie eine Mischung aus ruhrpottschem Assislang und den ersten Sprachversuchen eines geistig behinderten Vollzeitmonopolyspielers. Gute Nacht!!!!
Doch nein, kurz nach 2 Uhr in der Nacht kam dann Sean, der Straßenmusiker, in das Wohnzimmer, er lachte, unbeeindruckt meiner verwirrten, dem Tiefschlaf entrissenen und der gefühlten minus acht Grad Innentemperatur geschuldeten Vollstarre, und warf mir eine richtige Decke und ein richtiges Kopfkissen zu, drückte ein paar Knöpfe HINTER einem Poster, damit war auch das Küchenlicht ausgeschaltet, das allerdings wenige Minuten später wie in einem schlechten Horrorfilm wieder anging, verließ wortkarg das Zimmer, trampelte die Treppe hinauf und legte eine Platte von The Smiths auf: There’s a light that never goes out.
Das hätte gepasst, nicht wahr? Naja, ehrlich gesagt war es ein anderer Song der Smiths, aber das spielte in der ersten Nacht in Dublin auch keine allzu große Rolle mehr. Irgendwie prügelte ich mich dann in den Schlaf und hoffte, der zweite Tag in Dublin würde ähnlich perfekt verlaufen…
Liebe Grüße,
euer Jim
PS: Den zweiten Teil des Reiseberichts gibt es nächste Woche erst, jetzt werde ich mir erst einmal auf dem Parookaville-Festival die Seele aus dem Leib tanzen 🙂 Ach und: Ich bin auf Facebook, nä? Inklusive Klaviergeklimper 😀 Hier entlang: https://www.facebook.com/blog.jimkopf/




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