Um halb 8 morgens an der Arztpraxis. Ich nehme die Treppe und es stehen bereits 15 „Besucher“ wartend vor den um 8 Uhr öffnenden Türen. Keine Wand zum anlehnen ist mehr frei. Ich schaue in die Runde. Es kommt mir vor als würde mich jede einzelne Person mustern. Ich stehe da mitten im Raum, Lederjacke und schwarze Hose, die Haare verdecken meine Stirn. Dazu einen durchgewaschenen dunkelroten Pullover, den ich gefühlte 10 mal in den letzten 7 Tagen getragen habe. Irgendwo muss man sich ja Geborgenheit herholen. Ich gehe drei Schritte zurück und stelle mich auf die Treppe. Kurz danach öffnet sich der Fahrstuhl, eine ältere Dame kommt in den Warteraum vor der Praxis und fragt in die Runde: „Wer ist der letzte?“ Es prustete aus allen 4 Ecken: „Der junge Mann auf der Treppe!“ Es kam mir vor als würde die Dame gefragt haben: „Wer ist das Letzte?“ und alle zeigen mit dem Finger auf mich. Es sind ausschließlich ältere Menschen anwesend und sie alle schauen mich vorwurfsvoll an. Ich fühle mich unwohl in diesem Moment. Gehe wieder nach Draußen und zünde mir eine der letzten beiden verbliebenden Zigaretten an, hole meine Kopfhörer heraus und schalte auf eine Cover Version von Mad World. Die ersten Klavierklänge ertönen und ich schweife ab. Weitere 10 Arztbesucher laufen an mir vorbei und werden nun auch noch vor mir in der Schlange sein. Ich bin der Letzte.
Am Schalter frage ich, ob ich schnellstmöglich dran kommen könnte, da ich zur Arbeit muss. „Die Arzthelferin arbeitet einen nach dem anderen ab.“ Wer hätte das gedacht. Ich frage mich, welcher Beschäftigung die älteren Arztbesucher anschließend nachgehen. Erdbeeren pflücken? Das Essen vorbereiten für das in einem Monat stattfindende Familientreffen? Die Wiederholung ihrer Lieblingsdokumentation über die Wunder der Weltmeere schauen? „Was es nicht alles gibt.“ Irgendwo muss man sich ja die Faszination herholen.
Da sitze ich nun und warte auf meinen Aufruf. Ob mich überhaupt jemand rufen wird?
Wie verbittert die schon wieder alle gucken, hallo Deutschland.
Diese Menschen sind eben seit langer Zeit in einem Trott, der ihnen selbst kein Spaß macht. Lass dich davon nicht runterziehen, und wenn es dich aufheitert: vor zwei Wochen musste ich drei(!) Stunden warten – als ich dann empört zur Rezeption ging, hieß es nur „Entschuldigung, wir haben Sie völlig vergessen.“
LikeLike
Du sagst es. Ich lass mich davon zwar nicht runterziehen, aber es ist dennoch ein seltsam betretenes Gefühl, so gemustert zu werden. Als würde jeder einzelne Blick dir einen Vorwurf machen wollen.
Ja, so etwas kommt vor, aber wirklich glauben tut man nicht dass man vergessen wurde. Ich frage mich, ob die älteren Stammgäste auch mal vergessen werden…
LikeLike