Ich sitze in einem Café in Dortmund. War gerade in einem Copyshop, um meine Bachelorarbeit binden zu lassen. Nun warte ich, und schreibe an meinem Manuskript, das irgendwann zu einem Bestseller heranwachsen soll. Ab und zu schaue ich auf und beobachte die Menschen um mich herum. Eine Gruppe von Müttern mit Säuglingen unterhält sich ausgelassen. Ein Mädchen mit Dreadlocks trinkt einen Eiskaffee. Ein junger Türke sitzt gedankenverloren in der Sonne und raucht. Zwei Frauen sprechen Spanisch, zwei andere reden Kroatisch.
Ich schreibe und fühle mich gut, die Geschichte geht voran, ich muss über mein Geschriebenes grinsen und lobe mich selbst in den Himmel. Wie das immer so ist, wenn in einem Moment das Geschriebene schon in die Bestsellerlisten fabuliert wird, und dann am nächsten Tag alles wieder keinen Sinn ergibt.
Dann kommt ein Mann um die Ecke. Er ist um die 50 Jahre alt, hat wenige, graue Haare, trägt eine dreckige Handwerkerhose und ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Don’t ever look back“. Selbstbestimmt geht er in das Café. Ich sehe nicht, was er bestellt. Aber das T-Shirt bleibt in meinen Gedanken hängen. Er, der fünfzigjährige Handwerker, will mir mitteilen, dass ich nie zurückschauen soll. Die Vergangenheit hinter mir lassen soll. Er, der eine Hose trägt, die er jeden Tag trägt, um das Handwerk viele Stunden lang auszuüben. Er arbeitet, er trägt, er streicht und er kämpft mit der Anstrengung.
Die Vergangenheit eines jeden Menschen bestimmt das Wesen der Person, die man im Augenblick ist. Er ist das Wesen, das selbstbestimmt in das Café geht, vermutlich in der Mittagspause seiner Arbeit. Er ist aber auch das Wesen, der dies auf eine Art tut, die mich völlig einnimmt. Schau niemals zurück. Er ist so viel älter als ich, er muss es wissen. Sein T-Shirt schreit mich nahezu an. Ausgerechnet mich, ein junger Mann, der ständig in die Vergangenheit schaut, um einen klareren Blick in die Zukunft werfen zu können. Bloß nicht in der Gegenwart leben.
Der Handwerker lebt in der Gegenwart. Und das, obwohl er vielleicht mal Künstler werden, ein Maler, vielleicht war er auch auf einem guten Weg, hat einige Werke verkauft, es sah gut aus, er konnte sich ein tolles Apartment leisten, er lernte eine Frau kennen, zeugte Kinder, er hatte nun eine richtige Familie. Vielleicht hat ihn diese Frau dann beschissen, vielleicht hat sie ihm die Wohnung und das Sorgerecht abgenommen, vielleicht würde er fortan keine Werke mehr verkaufen, weil sie es öffentlich so darstellte, dass er ein Rabenvater war, was auch immer dies bedeuten soll. Sein Ruf war dahin, sein Malerkarriere ebenso. Er hatte nun kein Geld mehr, musste sich um eine günstige Bleibe kümmern, und seine Kinder sah er einmal im Monat. Im Handwerk fand er einen Neuanfang. Die Kollegen verstanden ihn, sie alle hatten Träume, doch sie alle gaben sich damit zufrieden, „nur“ Handwerker zu sein. Das Geld, das er nun verdiente, reichte für eine normale Wohnung in einer normalen Gegend in Dortmund. Diese Stadt, in der er eigentlich nie leben wollte. Er wollte nach New York oder Paris oder London, nur nicht Dortmund. Jetzt war er hier und er würde nie wieder wegkommen.
Aber wisst ihr was? Dieser Mann lebt in der Gegenwart. Er hat sich damit abgefunden. Und alles, was er mir mit seinem T-Shirt sagen will, ist eigentlich nur eines: Er ist glücklich. Die Botschaft ist weniger, dass man nicht zurückschauen soll, sondern dass man in der Gegenwart leben soll, und glücklich mit dem Wesen sein soll, das man im Augenblick ist.
Ich trinke mein Bier aus, rauche eine letzte Zigarette, klappe den Laptop zu, hole die fertige Bachelorarbeit ab. Ich werde jetzt nach Hause fahren, nach Bochum, dort, wo ich nie und nimmer sein wollte nach dem Tag, an dem ich meine Bachelorarbeit abgebe.

Hinterlasse eine Antwort zu Jim Kopf Antwort abbrechen