Zehn Jahre träumte ich von Alaska, träumte von der Freiheit und der Einsamkeit. Nur ich und die Natur, nur ich und das Nichtmenschliche. Und dann war es so weit. Während des Auslandssemesters auf Vancouver Island wurde mir klar, dass ich verdammt nah an Alaska war. An einem verregneten Nachmittag schob ich die Hausarbeiten, Essays und anstehenden Tests beiseite, suchte nach einem Flug und buchte ihn direkt ohne zu Zögern. Wie sehr ich dahin wollte, und das ich seit Ewigkeiten von einer Reise nach Alaska träumte, verdeutlicht dieses Video ganz gut:
Eine Woche später war ich in Alaska. Ich war endlich da. Und ich wollte hoch in den Norden, dort wo es bitterkalt war, und bitter einsam. Ja, die Einsamkeit war das Ziel. Also nahm ich die Alaska Railroad nach Fairbanks zum Sparpreis von 260 Dollar und fuhr zehn Stunden lang durch dichte Wälder, weite Ebenen, schneebedeckten Bergen am Horizont und der vermutlich anmutigsten Landschaft hindurch, die mir je unter die Augen kam.

Doch auch Fairbanks war nicht das Ziel. Ich wollte höher. Leider verbieten die Mietwagenanbieter, den holprigen Dalton Highway in den Norden zu nehmen. Zu gefährlich sei das, sagte man mir. Also musste ich über eine Agentur eine Reise buchen. War viel zu teuer, aber was blieb mir anderes übrig. Mit einem Kleinbus ging es los. Da war ich, und 15 chinesische Touristen. Interessante Konstellation. Ich vergrub mich in der letzten Reihe, hörte die melancholischste Playlist aller Zeiten auf Spotify, und wartete einen Stop nach dem anderen ab, bis ich der letzte war, der am Arktischen Kreis von einem Van abgeholt und zu einem kleinen Truckstop weit im Norden Alaskas gebracht wurde: Coldfoot.
Es folgten 96 Stunden in Coldfoot, Alaska. In der Einsamkeit.
Gott, was war ich am grinsen, als ich dort oben ankam. Es war zwar arschkalt, minus 20 Grad, und arschdunkel, wie das halt in Alaska im November ab 15 Uhr der Fall ist, und gottverlassen, da Coldfoot lediglich ein Truck Stop mitten in der Pampa Alaskas ist, und trotzdem: Ich fühlte mich großartig.

In Coldfoot gab es eine Art Behausung, die zu meinem Unterschlupf für die nächsten vier Tage wurde. Nicht mehr als ein spärlich zusammengebauter Kasten, mit schlichten acht Quadratmeter großen Zimmern. Und zu meinem Glück war ich der einzige Tourist, was bedeutet, dass alle anderen zwanzig Zimmer leer waren. Das sollte sich die nächsten Tage auch nicht ändern, lediglich der ein oder andere Truckfahrer würde hier für eine Nacht rasten.

Auf der gegenüberliegenden Seite meiner wilden Zuflucht lag die Bar. Dort gab es Burger und Spiegeleier, und natürlich ganz viel Bier. Von etwas anderem habe ich mich dort dann auch nicht ernährt. Zum Frühstück Eier, zum Mittag Burger, zum Abend Bier. Herrlich. Ich fühlte mich zwar nicht ganz wohl dabei, denn musste man als Aussteiger in Alaska sein Essen nicht selbst schießen? Oder zumindest sich in irgendeiner Weise entbehren? Wie dem auch sei, ich genoss die bierlastigen Abende mit den ultracoolen Truckern, die geradewegs aus den härtesten aller Actionfilme hätten kommen können. Einfach coole Typen, und dazwischen Little Jim, der Möchtegern-Nomade.

Es wurde Zeit für meine erste Wanderung. Recht früh wachte ich nach meiner ersten Nacht auf, schob die Gardine zur Seite und sah, wie die rosa Morgensonne über den weißen Hügeln der Freiheit emporstieg. Nach gut einer Dreiviertelstunde war ich angezogen, Schicht über Schicht über Schicht, und stieg von der drückenden Wärme in die brachiale Alaskakälte. Der Schnee war hart und tief, und die ersten Meter in den Wald hinein waren dermaßen anstrengend, dass ich mich zum ersten Mal in Alaska fragte, was ich hier eigentlich machte. Niemand war zu sehen, hier lebte niemand, hier wanderte niemand, und bis auf einige kleine Hügel, mit Schnee bedeckte Tannen und einem in der Entfernung rauschenden Fluss gab es nichts.

Ich lief zwei Stunden in eine Richtung, immer dicht gefolgt von der unterschwelligen Angst, mich entweder zu verlaufen oder von einem Sturm überrascht zu werden. Mein iPhone starb schon in den ersten Minuten, die Dinger sind einfach nicht für die Kälte gemacht. GPS hatte ich nicht, eine Karte auch nicht, Kompass auch nicht (nicht, dass ich ihn hätte lesen können). Der nächste Mensch war mittlerweile schon ein paar Kilometer weit weg und vermutlich damit beschäftigt, seinen Truck aufzutanken. Dazu kam die Bärendichte im Norden Alaskas, die aggressiven Elche, von denen, wie man mir sagte, deutlich mehr Todesfälle ausgingen, und Füchse, die zwar scheu, aber durchaus ebenfalls einen gewissen Hunger im Winter verspüren. Ich war in der Wildnis und diese dezente, durchgehende Panik ließ es mich wissen.

Von vielen Filmen lernte ich, wenn die Freiheit und das Glück in der Natur am Größten ist, soll man die Hände in die Luft werfen, sich im Kreis drehen und dann in den Schnee fallen lassen. Genau das tat ich, als ich an eine Lichtung ankam. Zugegeben, ich fühlte mich etwas doof, ich ahmte hier eine Filmszene nach, die nichts mit der Realität gemein hatte, aber für einige Momente lang genoss ich es tatsächlich, im eiskalten Schnee zu liegen, bis er sich durch meine Jeans(!)-Hose ans Bein legte und mich frieren ließ. Meist erfolgt dann in solchen Filmen ein Szenenwechsel, aber dass der Protagonist dann dieselben drei Stunden, die er bis zur Lichtung lief, wieder zurückstampfen muss, wird totgeschwiegen.

Ich muss ganz ehrlich sagen, ich hatte mir ein anderes inneres Gefühl gewünscht am Tag meiner ersten Erkundung in die einsame Wildnis hinein. Viel mehr überwiegte der Kampf mit der Kälte und dem Schnee, ich konnte kaum Bilder machen, da nicht nur der Akku der Canon recht schnell starb, sondern auch einzelne Fingerkuppen. Dazu ließ mich etwas ganz bestimmtes die ganze Wanderung über nicht los, es hielt mich nahezu fest, und ich konnte nur ahnen, dass es etwas mit der Einsamkeit zu tun hatte, und dass ich hier alleine unterwegs war, nur mit mir selber, und somit diesen anmutigen Anblick des schneebedeckten Waldes, der von grazilen Hügeln umgeben war, auch mit niemanden teilen konnte. Es war echt seltsam, weil dieses Gefühl meilenweit von der beinahe schmerzhaften Sehnsucht entfernt war, weshalb ich mich so viele Jahre in die Einsamkeit Alaskas träumte.

Eben jene Wanderung wiederholte ich an den nächsten drei Tagen. Immer kam ich ein Stückchen weiter, jedoch immer nur bis zu einem Punkt, wo die Gefahr zu groß war, mich zu verlaufen, weil alles gleich aussah und nur marginale Änderungen in Gestalt krummer Bäume und flachen Hügeln zu erkennen waren. Beinahe resignierte ich, denn zum einen war da der ständige Gedanke, nur wenige Tage hier an diesem Ort zu haben, bis ich wieder in die Stadt zurückgebracht werden würde, und zum anderen erlebte ich jeden Tag dasselbe, ohne es richtig genießen zu können. Es war so kalt, es war so weit, es war so schwer, und obwohl ich genau das liebte, dieses Extreme, war die Wiederholung desselben auf dieser Reise ein Wehmutsfaktor, weil ich die Freiheit, die ich mir so lange eingeredet hatte, einfach nicht ausleben konnte. Ich konnte mich nicht hinsetzen und die Stille mit einem Buch genießen. Ich konnte nicht in eine der Waldhütten und bis in die Nacht schreiben. Ich konnte nicht weit in die Natur, weil ich keine Ahnung von der Wildnis habe und in ihr untergehen würde.

Dazu führte ich bis auf die abendlichen Unterhaltungen mit den Truckern keine Gespräche. Ich war nur mit mir selbst da und mit der Natur, die sich ziemlich leblos und rau anfühlte.
Was aber geschah, war eine Nacht mit den Polarlichtern. Die Aurora Borealis tanzte eine Stunde lang von zwei bis drei Uhr unter den wenigen Wolken und dem Vollmond hindurch, mal in leuchtend grünen Farben, mal in schleichendem Grau, das sich nur minimal vom Weiß der Wolken unterschied. Ich rannte mit meinem Stativ umher wie ein kleiner Junge, der zum ersten Mal in seinem Leben den Himmel sehen durfte. Dazusitzen und das Schauspiel zu genießen blieb mir vergönnt, es war nur dieses eine Mal, es gab nur diese wenigen Tage für mich in Alaska, was hätte ich auch tun sollen. Die Inszenierung der Freiheit erschien mir deutlich wichtiger, als vier Tage die Einsamkeit tatsächlich auszuleben.

Und so nahm ich von den 96 Stunden in der Einsamkeit Alaskas einige wenige Erinnerungen mit, die allesamt sehr schön und erfüllend wirken, sobald ich mich an sie zurückerinnere oder sie weitererzähle, das große Glück aber blieb von mir fern. Vielleicht war die Zeit zu kurz, vielleicht war aber auch die Idee der Einsamkeit zu glorifiziert, romantisiert.

Am letzten Abend betrank ich mich wieder einmal mit den Truckern, zahlte die Bierrechnung über achtzig Dollar für die gesamte Runde, lief zurück zum Zimmer, versuchte ein letztes Mal, eine SMS an mein Mädchen daheim zu schreiben, die mittlerweile ebenso 96 Stunden nichts von mir gehört hatte, doch auch diese SMS kam nicht durch, und ging schlafen.

Statt des versprochenen, einstündigen Rückfluges mit einem kleinen Propellerflugzeug war es so wolkig und windig und verschneit, dass ich auf einer zehnstündigen Fahrt mit dem Van zurück nach Fairbanks gebracht wurde. Es holperte und polterte und irgendwie wollte ich weg von diesem Ort, aber irgendwie auch nicht. Jetzt glaube ich, ich müsste noch einmal hin, um zu wissen, was in den 96 Stunden vor sich ging. In der Natur, und in mir.
Liebe Grüße von eurem Teilzeitalaskaner,
Jim

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