Flowzustand des Daseins

Als ich gestern während des Sonnenunterganges spazieren ging, überraschenderweise in einem Waldstück, das ich in dieser Form nicht erwartet hatte, es besaß kleine Seen, Alleen aus Bäumen, weitläufige Wiesen, sogar abgesteckte Blumenbeete, in herbstlich roten Farben; als ich in diesem Bild umherlief, ohne genauen Plan, allein aus der Motivation heraus, alleine mit mir und meiner Musik zu sein – die übergroßen Noise-Cancelling Kopfhörer auf meinem schmalen Kopf mussten für andere Spaziergänger ein ungewöhnliches Bild abgegeben haben – empfing ich die Natur mit etwas mehr Bewunderung als sonst.

Gerade, weil ich kürzlich erst aus den vermeintlich atemberaubenden Gegenden Südamerikas wiederkam, erstaunte mich, wie einfach diese Umgebung gestrickt war, in der ich spazieren ging, und gleichwohl wieviel Eindruck sie auf mich machte. Dies war ein Waldstück, das das Ambiente dafür bereitstellte, vollkommen eins mit der Musik zu werden, zu der ich vordringen wollte, damit ich in ultimativer Konsequenz die Chance erhalte, durch die Musik, die Natur und die monotone Bewegung in meinen Gliedern auch Zugang zu etwas sehr Wertvollem zu erhalten.

Zu klaren, reflektierenden Gedanken. Sie wollte ich aus ihren Verstecken locken, mich mit ihnen konfrontieren, und im besten Fall: Schlüsse aus ihnen ziehen.

Wie immer, wenn es eine Phase in meinem Leben gibt, die mir mehr Zeit als üblich einräumt, solche Spaziergänge in die eigenen Gedanken zu unternehmen, sind die Umstände, die mich dazu bringen, nach klaren Gedanken greifen zu wollen, von vielen Zweifeln, von viel Unwissen, von viel Aufregung umgeben.

Aufregung, weil das, was ich nicht weiß, größer ist als das, was ich weiß.

Vielleicht ein Grund, warum ich mich wie besessen aufs Lernen stürze, auf neue Inhalte, sie versuche einzusaugen und zu verankern, damit sie mir einen Tipp geben, hey, schau her, das ist das, was du machen möchtest, das wird es sein, was deine Zeit hier im Waldstück ablösen wird.

Und während ich dabei oftmals in einen Zustand gerate, bei dem ich mehrere Stunden im Lernen gefangen bin, weil das, was ich lerne, übermäßig viel in mir in Bewegung setzt, sei es Hoffnung, sei es Mut, sei es ein möglicher Weg, den ich gehen kann, geschah beim Spaziergehen gestern etwas Ähnliches. Ich fiel in einen Flowzustand.

Ich tat nichts, bewegte mich mechanisch über den Asphalt und den Schotter und den Waldboden hinweg, tat nichts mit den Händen, beteiligte mich in keinster Weise aktiv an etwas Neuem, das ich erlernte, oder an dem ich arbeitete.

Es war friedlich. Es war ein Flowzustand des Daseins.

Gibt es überhaupt so etwas wie den Flowzustand des Daseins? In gewisser Weise führt er den Begriff ad absurdum, denn das Dasein an sich vermittelt erst einmal eine große Inaktivität, eine passive Ergreifung des Lebens, das man als Basis akzeptiert, aber in keinster Weise zum Handeln aufruft.

Dabei ging etwas sehr Großes vor sich. Unsichtbar für jeden, der an mir vorbeiging. Es war der Flow des Zuhörens. Der Musik, der Gedanken. Der Vögel in den Baumkronen, deren Töne zu hoch sind, um von den Kopfhörern abgefangen zu werden. Der Eigendynamik unterschiedlicher Gefühle und Gedanken, die gegeneinander laufen. Und den Schlüssen, die daraus gezogen werden.

So machte ich eine Pause, lehnte mich auf einer Anhöhe an ein Geländer, überblickte das Waldstück, vorne Wiese, dahinter Bäume, weit entfernt die Industrieanlagen und einige wenige Hochhäuser. Der Blick nahm all das einen Moment lang wahr, ehe er sich nach innen richtete und vergaß, dass er im Äußeren etwas sah, und dass er einem Körper, einem Gesicht gehörte, dass still erstarrt auf der Anhöhe dastand, regungslos, beinahe bewusstseinslos für das Äußere.

Pures, reines, friedliches Dasein.

Nach einer Weile gelangte der Blick sein Bewusstsein zurück, ich erkannte ein altes Ehepaar, das nicht weit von mir am selben Geländer stand. Ich hatte sie nicht bemerkt. Ich hatte nicht bemerkt, dass die Sonne untergegangen war, hatte vergessen, dass doch dieses Fußballspiel im Fernsehen lief, das ich so gerne schauen wollte.

Aber ich hatte etwas gewonnen aus dieser Stille. Der Flowzustand des Daseins, so unglaublich selten und glückselig und erfüllend er ist, hatte mich zu mir selbst gebracht, hatte Gedanken offenbart, die unter dem Dickicht des Alltäglichen verborgen lagen, hatte mich mit Emotionen konfrontiert, die sich nur in einem Moment der Stille zeigen.

Habe Schlüsse gesehen, wie Fäden, an denen ich mich hochziehen könnte.

Jetzt bewege ich mich wieder. Jetzt handle ich wieder. Jetzt bin ich wieder aktiv.

So lange, bis all die Schlüsse aufgebraucht sind, und ich merke, dass ich ihn wieder brauche, den Flowzustand des Daseins.

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