Wie kann die Zeit nur so schnell fortgeschritten sein, dass ich wieder einmal dasitze und mich frage, ob ich die letzten Wochen überhaupt erlebt habe. Ob ich sie selbst erlebt habe, oder ob die Erinnerung an alle Geschehnisse nur so etwas wie Fiktion ist, ein Buch, das ich mal gelesen habe, über das Abenteuer eines Fremden. Was ist in dieser Zeit geschehen? Zu viel, könnte die Antwort sein. Zu viel, oder eher, zu viel Neues, ja, das ist schneller als Zeit. Zu viele neue Erlebnisse jeden Tag betäuben das Zeitgefühl. Ich kann noch so schnell rennen, noch so schnell handeln, noch so schnell denken, die Zeit ist mir ein Schritt voraus. Jeder Versuch, die Zeit zu verlangsamen, indem ich das Erlebte oder das Neue bewusster zu wahrnehmen versuche, scheitert an der Eigenständigkeit der Zeit, sie läuft voraus, und ist nicht einholbar. Ich erlebe das Neue als Zeitraffer, kann es kaum wahrnehmen. War ich das, der Junge dort oben auf dem Berg?, der Junge in Alaska?, der Junge, der mit blau angelaufenen Knöcheln stundenlang durch den Tiefschnee gewandert ist? Oh, könnte ich doch nur den Sekundenzeiger einmal anhalten und mir das Bewusstsein für die Situation in den Verstand prügeln. Richtig wissen, dass ich da bin, dass ich existiere, dass ich das gerade wirklich mache. Als ich vor ein paar Tagen in Kanadas Bergen Skifahren war, wollte ich es mal wieder so sehr. Ich wollte wissen, dass ich das bin, der Junge auf den Skiern, weit über den Wolken, das Tal ganz weiß, verschneite Berggipfel in jede Himmelsrichtung. Ich hielt an und schraubte mir einen Gedanken in den Kopf: Wahnsinn, diese Aussicht, wie cool, dass ich gerade hier zum ersten Mal richtig Ski fahre. Ich bekam keine Gänsehaut, keine Träne, die sich vor Bewunderung für den Augenblick löste, kein inneres Zittern, dass das Neue physisch ausdrücken hätte können. Das Gefühl war trotzdem da, ein unterschwelliges Glücksgefühl, ja, ich mache gerade etwas Schönes, das erfüllt mich. Zwei Tage später war die Erinnerung an diesen Moment noch da, doch das Gefühl war weg. Vielleicht war es nicht instinktiv genug, nicht intensiv genug, so oder so war es weg, und ich streite mit der Zeit um das Bewusstsein für jenen Moment. Gib mir das Gefühl, dass ich das war! Gib es mir zurück! Ich stehe außer mir. Schaue auf mich herab, bin ich das?, der Junge im Bergsee?, der Junge unter der Milchstraße?, der Junge, der vier Tage lang an der Westküste entlang lief und von der schieren Schönheit riesiger Bäume und verwachsenen Pfaden fasziniert war? Gib mir Zeit zurück. Es ist, als wäre ich der Charakter eines Buches, nur Worte und Sätze kleiden sein Erlebtes, nicht aber die echte Person, die das Buch liest. Da herrscht diese Distanz, von der ich nicht weiß, wo sie herkam, aber sie distanziert mich nach allem Erlebten von dem Erlebnis. Außer in der Zweisamkeit, die unmittelbar den Rand der Liebe mit jedem Tag weiter ausdehnt, kann mir nichts das Gefühl für Echtheit geben. In Gedanken schaue ich mir das Gelesene an, oder das Bild, oder den Film, den ich doch selbst erlebte, ich war es doch!, doch nein, etwas an dem Buch oder dem Bild oder dem Film ist vergangen. Wenn das Bewusstsein fehlt, dass das wirklich Ich bin, geschieht Vergangenheit schneller als man sie begreifen kann. Zurück bleibt ein Bild, das man sich gerne anschaut, seht her, das bin ich; zurück bleibt aber auch die Selbstzweifel, ob das Ich bin, oder ob es nur das Bild eines geschriebenen Satzes war, den ich immer wieder lese, um die Distanz zu mir zu verringern. Vielleicht muss man dem Neuen Konstanz geben, damit man die Zeit begreifen kann. Ohne Konstanz wird das Neue Vergangenheit, und das Vergangene distanziert mich vom Erlebten. Vielleicht verlernen wir in unserer bildhaften Welt, das Neue bewusst wahrzunehmen; vielleicht vergrößert jedes Bild, das man aufnimmt, die Distanz zu der Person, die man im Inneren ist, die instinktiv danach strebt, wahrgenommen zu werden. Vielleicht muss man erst einmal wieder lernen, sich selber wahrzunehmen, um die Zeit wahrzunehmen, indem sich das Erlebte abspielt. Eine Rückkehr vom Teilen zum Bewusstsein für den Moment, der stärker ist als Zeit. Ja, vielleicht ist es das, um sich sicher sein zu können, dass dieser Junge ich war. Ja, das ist es. Eine Rückkehr zum Bewusstsein für den Moment. Stärker sein als Zeit.


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