Vor einem Monat bin ich mit ihr losgezogen. Nach Chile, dank relativ günstiger One-Way-Flüge ab Rom, wo es in Strömen geregnet hat und der heilige Brunnen von solch Menschenmassen besucht wurde, dass einem glatt der Blick vergönnt blieb. In Santiago war dies anders, es schien, als gäbe es hier keine europäischen Touristen, wir kamen an, nahmen Bahn, Bus und Metro, um zum Airbnb zu gelangen, zu dem wir mit viel zu schweren Rucksäcken wanderten, inmitten von spätherbstlicher Hitze und chilenischen Menschen, die uns ungläubig anstarrten, aber bei jeder noch so kleinen Verwirrung weiterhalfen, ganz gleich, ob mein unterirdisches Spanisch nach dem Weg fragte oder wir einfach ratlos herumstanden.

Unsere erste Weiterreise führte in das wohl deutscheste Gebiet Südamerikas. Der Ort, Puerto Varas, einst von deutschen Auswanderern belagert, hatte einen Vulkan, Kuchenläden und ein tolles Hostel – hätte mein lyrisches Tagebuch-Ich nun geschrieben. Es war meine erste Erfahrung in einem Hostel, ich meine, nicht dass ich noch nie in einem Hostel war, das war ich, in London zum Beispiel, wo ein Sechsbettzimmer von fünf schnarchenden Menschen und mir dazwischen den Schlaf unmöglich machte, aber dieses Hostel in Chile war anders, darin befanden sich Menschen wie wir, Bagpacker aus aller Welt auf Durchreise, die zusammen kochten, aßen, tranken und sich ihre kuriosesten Geschichten erzählten, die sie auf ihren bisherigen Reisen erlebt haben. Ein Wir-Gefühl kam auf, und irgendwie sagte es uns, dass wir genau das Richtige taten.

Denn das ist gar nicht mal so einfach zu sagen. Obwohl ich zu Anbeginn meines Blogs vor vier Jahren stets davon schrieb, ausreißen und wegfliegen zu wollen, war die Entscheidung nun von anderen Variablen umgeben, von denen ich damals nichtmal ahnte, dass es sie geben würde. Es geht auch nicht darum, ob mir die Entscheidung schwerfiel, denn das tat sie nicht, weder das Kündigungen des Jobs, noch das Untervermieten der Wohnung auf unbestimmte Zeit, noch all das andere, das mit einem temporären Weggang einhergeht. Wohl eher waren es Zweifel, die irgendwie immer da sind, selbst wenn man sich etwas erfüllt, wovon man lange träumte.

Was soll mir die Reise geben? Wer bin ich auf dieser Reise? Wer bin ich, dass ich diese Reise brauche, und wer soll ich sein, wenn ich von dieser Reise zurückkehre? Kehre ich zurück?

Zweifel wie diese gelangten auf dem nächsten Ziel tief ins Unterbewusstsein. In Bariloche, nach einer siebenstündigen Überfahrt durch die schlicht atemberaubenden Anden Argentiniens, waren wir in Patagonien angekommen, oder zumindest an dessen Tor. Gesegnet mit azurblauen Seen, ist dieser Ort zwar ein touristischer Hotspot, aber einer, der etwas abseits der Innenstadt scheinbar Anblicke bietet, die mit nichts verglichen werden können.

Vor allem war da dieser Indian Summer, von dem ich dachte, es gäbe ihn nur in Kanada. Diese Farben: der Wahnsinn. Meine Gefühle durchdrangen das Neue, bisher nie Erlebte in einer vor Faszination sprachlosen Art und Weise. Ich fuhr dahin, mit ihr und neu gewonnenen Freunden, hunderte Kilometer, und dachte an die Seltenheit dieses Erlebnisses und die, so empfand ich es, versteckte Landschaft, von der kaum jemand wusste, und die ich beinah ganz intim mit meiner Kamera entdecken durfte.

Kurze Zeit später stand meine erste Bergbesteigung an, denn seit meiner damaligen Norwegen-Reise spüre ich kaum etwas Intensiveres als die Sehnsucht nach Bergen und den Drang, sie zu erklimmen, in höchster Höhe von allem entrissen zu allen Seiten nichts als Freiheit zu sehen, pure, reine, oh heilige Freiheit. Nirgendwo spüre ich sie mehr als auf dem Gipfel eines Berges. El Bolsón, etwas südlich von Bariloche in Mittel-Argentinien, bot mir genau das, Freiheit auf dem höchsten Berg dieser aufstrebenden, von einer Hippie-Kultur durchdrungenen Stadt.

Dort oben, auf dem schmalen Gipfelspalt, lehnte ich mich an das Gipfelmonument, aß einen Müsliriegel, lauschte dem zischenden Wind und starrte tausende Meter tief in die braunroten Anden, so groß, so mächtig, so erfüllend.

Zur anderen Seite war die Stadt eingekesselt zwischen Bergformationen, wie ein kleines, niedliches Tal, das von einer dünnen Schicht, dem Smog aufkommender Wintertage, wie ein Teppich überlagert wurde, ganz so als würde das Höhere, also die gewaltigen Berge, das Niedrige, also die Gesellschaft, von seiner Welt ausschließen – ihr da unten, das gestehen wir euch zu, aber das hier oben, das ist nur für Auserwählte geöffnet. Ich durfte einer dieser Auserwählten sein.

Wie sieht das eigentlich aus, das mit der Zukunft, das, was nach den Bergbesteigungen und all den Reisezielen kommt, wenn ich zurück bin? Zurück, wo die Sehnsucht nach Freiheit unbefriedigt bleibt, sollte ich mir nicht mal eben acht Stunden Fahrzeit zum nächstgelegenen Berg eingestehen können. Werde ich in etwas anderem der Auserwählte sein?

Ich weiß es nicht. Was aber wohl eher die Frage sein wird, ist die Frage, wie Freiheit definiert werden kann. Natürlich muss es nicht derselbe Drang sein, den ich bisher stets spürte, wenn das Eingegrenzte von Häusern und Straßen und Menschen bestimmt wurde. Vielleicht wird dann die Freiheit etwas ganz anderes sein, nachdem ich mir die Freiheit genommen habe, mehrere Monate durch die Welt zu reisen, oder zumindest durch Süd- und Mittelamerika, ja vielleicht wird Freiheit dann von einer völlig neuen Aura umgeben sein, zu der ich jetzt noch keinen Zugang habe.

Vorerst aber ist der Blick auf die nächsten Tage gerichtet, auf das, was auf der Reise noch folgen soll. Bolivien, Peru, Ecuador, Kolumbien, Panama, Costa Rica, Mexiko? Und auf das, was ich mit Worten errichten mag, ein großes Werk, natürlich, davon träume ich schon seit Jahren, daran arbeite ich schon seit Jahren. Wer weiß, was am Ende stehen wird, doch so oder so verarbeite ich das Gesehene und manchmal auch das Nichtgesehene in Texten, sprich, ich erweitere ein Erlebnis mit neuen Assoziationen, Beschreibungen und Attributen, die im Augenblick des Erlebens noch hinter dem Blick verborgen bleiben und sich erst im Nachhinein, im nachträglichen Betrachten der Erinnerungen, ergeben.

Aktuell bin ich in einem abgelegenen Dorf in Mittel-Chile, eine Farm steht hier inmitten roter, gelber, orangener und grüner Baumlandschaften auf Bergen, die bis zu zweitausend Meter in die Höhe ragen. Zwei Wochen ohne Internet, das tut gut, es macht einen unabhängiger von der Welt da draußen.

Ich melde mich wieder und freue mich über jeden, der mich hier auf dieser Reise begleitet.
Bis bald,
Jim
Das sind fantastische Fotos!! Diese Bilder wirst du dein Leben lang nicht mehr aus dem Kopf bekommen… allein dafür lohnt sich das reisen, von den tausenden tollen zwischenmenschlichen Erfahrungen mal ganz abgesehen. Habt weiterhin eine tolle Zeit! J
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Vielen lieben Dank, freue mich sehr über diesen Kommentar! & ja, das hoffe ich auch 🙂
Danke Jasmin!
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was für bilder! diese landschaft, einfach unglaublich!
und dieser satz: „Wohl eher waren es Zweifel, die irgendwie immer da sind, selbst wenn man sich etwas erfüllt, wovon man lange träumte.“ – egal, was es ist, wovon man träumt, diese zweifel, die kenne ich auch. die frage nach dem danach ist bei dieser art von abenteuer, in die ihr gestartet seid, bestimmt auch ein wesentlicher bestandteil. aber ich denke, dass es jetzt noch keine antwort darauf geben kann, weil du nicht wissen kannst, welcher mensch du danach sein wirst…
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Danke liebe Paleica, ich finds immer schön wenn dir meine Bilder gefallen 🙂
Ich glaube, das wird sich wie du schon sagst erst im Nachgang herauskristallisieren.. obwohl ich ebenfalls glaube, dass man auch nach so einer Reise unfassbar schnell wieder im selben Alltag drin sein kann wie es vorher war, mit Fernseher, riesigen Supermärkten, Bartouren und 9to5 job.. wie du schon sagst, die Antwort darauf lässt auf sich warten.
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das stimmt. und auch wenn man schnell wieder drin ist, ein stück bleibt, von sich selbst, das anders geworden ist.
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