Stell dir vor, du läufst zwanzig Kilometer in den Grand Canyon hinein. Zwischen massiven Wänden hindurch, unter einer brütenden Sonne. Rot ist der Sandstein, grün die Bäume, Staub wirbelt auf, Flüsse fließen. Dann, Wasserfälle, laut rauschend, gewaltig, in reinstem Türkisblau. Der Ort hat etwas Urzeitliches, es ist, als befinde man sich in einer ursprünglichen Welt.
Am Ende gelangst du in ein Indianer-Dorf. Vorne heran, ein Kiosk. Was darf es sein, Gatorade?, ein Magnum-Eis?, oder ein Iced Moccha im Starbucks-Glas? Ein Helikopter rauscht heran, er bringt Nachschub. Etwas weiter, eine Touristen-Lodge, und zwischen Büschen versteckt, brüchige Häuser. Mit riesigen Antennen auf den Dächern. Von weitem hörst du schon die amerikanischen News. Läufst du vorbei, siehst du Ureinwohner*innen auf der Couch sitzen, sie starren auf riesige Flatscreen-TVs. Im tiefsten Grand Canyon.
Jetzt lausche in dich hinein: Bist du enttäuscht?
Ich war es. Ich war verärgert. Ich suchte das Abenteuer und fand das Sinnbild kultureller Entfremdung durch den Massentourismus. Dabei war es offensichtlich, ich war ein Teil davon. Ich saß wie die anderen Besucher tagelang vor dem Telefon, rief wortwörtlich über einhundert Mal in Havasupai an, um eine der begehrten Zimmer zu erhalten. Und ich kam durch. Millionen andere nicht.
Wie habe ich dieses Glück, und das Privileg, auf die weite Reise gehen zu dürfen, genutzt? Ist doch klar: Mit GoPro, Spiegelreflex, Selfie-Stick und unzähligen Smartphone-Aufnahmen. Share, auf Instagram, Blog, YouTube, WhatsApp. Ich bin hier, schaut her. Pics or it didn‘t happen.
Natürlich, die Landschaft ist ein einzigartiger Genuss, aber wir verhalten uns, als sei es unsere Landschaft. Blöd nur, dass es den Indigenen gehört: es ist ihr Zuhause, das wir inszenieren, überlaufen, und verändern.
Während der Pandemie konnte die Natur aufatmen. Aber der Tourismus blutet, und überhaupt, wie sollen die Stammesmitglieder*innen ihre TV-Rechnungen zahlen, wenn die Touristen ausbleiben?
Das ist kein Vorwurf. Wir haben sie in diese Lage gebracht.
Havasupai, wie alle schönen Orte auf dieser Welt, ist unter dem Hochglanz massenhafter Virtualisierung zu einer endlosen Marketingkampagne geworden. Mir allein wären unzählige Impressions zugeschrieben worden: es vergeht kein Tag, an dem kein Bild von diesen Wasserfällen in meinem Feed auftaucht. Heutzutage bedarf es keiner Recherche mehr, um einstige Naturgeheimnisse zu finden. Nur ein weiterer Meilenstein auf der Roadmap unserer bald zu Ende entdeckten Erde.
In den letzten Monaten hatten wir ein wenig Zeit, nachzudenken. Wohin können wir in Zukunft reisen? Wohin wollen wir in Zukunft reisen? Ganz bestimmt nicht dorthin, wo viele Menschen sind, nein, vielleicht zeigt mir der Feed heute etwas Einzigartiges.
So einzigartig wie Havasupai.