Ein ganz normaler Monat in Norwegen (Teil 1)

Es wurde mal wieder Zeit für einen echten Jim. Der spontan seine Sachen packt und hinausgeht, für ein paar Tage, nein, für einen ganzen Monat. Nach Norwegen, einfach ins Auto setzen, den Laptop und die Wanderschuhe mitnehmen, und dort bleiben, das einfache Fjordleben führen. Morgens im Nebeltau joggen, Kaffee auf der Veranda, während die ersten Sonnenstrahlen über dem Berg erscheinen, arbeiten, abends hoch zum Gipfel oder ans Fjordende, mit einem Bier in den Sand setzen und die ruhigen Wellen beobachten. So stellte ich es mir vor, und praktischerweise war das exakt der Tagesablauf in meiner ersten Woche dort, nachdem ich zwei Tage fuhr, die Autofähre mir einen schicken Sonnenbrand nach anderthalb Jahren LED-Wärme aus dem Lockdown aufs Gesicht zauberte, und nach einem weiteren sechsstündigen Kurvenlauf durch die gesprenkelte Landschaft Norwegens bei meinem Airbnb ankam. Ein Haus, ganz allein für mich, typisch skandinavisch eingerichtet, sodass schon beim Eintreten ein Wohlgefühl losgetreten wurde, die mattgelben Kissen, die graue Landhausküche, der Kamin. Hier war ich zuhause, dachte ich, und als ich meinen ersten Kaffee am nächsten Morgen machte, mich ans Fenster stellte und die Norwegenfahne vor dem Hintergrund des bläulichen Bergpanoramas schwenken sah, dachte ich, schade, dass es nur ein Monat sein wird.

Laufschuhe an und raus, es war sieben in der Früh. Mein Stolz war unendlich, ich hatte es geschafft, um diese Uhrzeit aufzustehen und zu joggen, doch kurz danach senkte ich den Kopf beschämt, da hockte ein ungefähr Achtzigjähriger im Beet gegenüber, er rupfte das Unkraut heraus, bestimmt schon stundenlang, mit seiner tief ins Gesicht gezogenen Kappe und dem dreckigen Arbeitsoverall. Ich grüßte verlegen und rannte vorbei, die einzige Straße entlang, auf der kein Auto fuhr. Die Abwesenheit von Stadtgeräuschen legte sich wie ein Mantel um mich, da waren nur die Wasserfälle, der Wind, die Kühe auf den Feldern, und diese wuchtige Stille, die auf den massiven Felshängen liegt und eine Art Taubheit hinterlässt. Ja, in dieser tausende Jahre alten Zahnlücke der Berge durchzulaufen und den Druck auf den Ohren zu geniessen, das war schon toll. Dazu die Sonne, die mein verschwitztes Gesicht traf, während ich mich am See dehnte.

Um neun begann ich zu arbeiten, vierunddreißig ToDos, sechs Calls, um halb sieben klappte ich den Laptop zu. Ich hatte Kartoffeln gegessen, mit Dosenmais und Kidneybohnen, ich saß schlecht auf der Designerbank, mir tat der Nacken weh. Aber die Freude, die ich empfand, als ich wieder hinaustrat! Die Sonne schien nun von der anderen Seite des Fjords, dort, wo das Meer anfing. Sie beschien die Massive linksherum mit einem Glanz, den man sonst nur auf fein retouchierten Instagrambildern findet. Mit Wanderschuhen machte ich mich auf den Weg, noch hatte ich vier Stunden, bis es dunkel sein würde.

Am ersten Plateau angekommen, ich hatte keinen Plan, auf welchen Gipfel ich hochwandern könnte, hatte keine Zeit gehabt, mich vorzubereiten, fuhr ein Auto vor. Zwei Männer um die sechzig stiegen aus, in voller Wandermontur, und sie fragten mich, wo ich hinwollte. Keine Ahnung, sagte ich, und sie sagten, wir wollen zum Vallresknuten, und ich sagte, ich komme mit. Wie sich herausstellte, war dies der höchste Gipfel der Umgebung. Die beiden wollten eine Erinnerung aufleben lassen, vor über vierzig Jahren sind sie schon einmal hochgewandert, doch dann kam das Leben, die Arbeit, das Dazwischen. Es entfernte sie nicht nur von dem Ort, den sie als junge, abenteuerlustige Jugendliche liebten, sondern auch voneinander – eine Freundschaft wie der Fjord, eine Zeit lang zusammen unten, dann geht der eine auf den Berg nach links, und der andere nach rechts, und das Tal ist breit und die Sicht trüb, bis man sich nach vielen Jahren wiederfindet.

Sie waren gesprächig und lachten viel, Jøns Glatze wurde kalt, er sagte, du wolltest die Mütze doch mitbringen, doch sein Kumpel hatte sie im Auto liegen lassen, deshalb gab ich ihm meine, die aus Peru mit dem Alpakafell. Wir redeten über das Öl vor den Küsten und über Bücher, sie mussten Hamsun in der Schule lesen, Hunger, natürlich. Jøn sagte, er versteht nicht, dass heutzutage alle ein Buch schreiben wollen, ist es, weil die Leute süchtig nach Aufmerksamkeit sind? Kœrr sagte, er hat Diabetes, und ein paar andere Sachen.

Die Wanderung war schön, manchmal ließ ich mich etwas zurückfallen um die Stille auf dem Berg zu geniessen, die vielen kleinen Teiche und Seen dort oben, die Felsen, der plötzlich auftretende Nebel. Aber ich bekam Angst, als ich sie nicht mehr hörte, der Weg war nicht mehr zu erkennen, wir waren weit ins Innere der Berglandschaft gelaufen, und ich hatte noch keine Kartenapp gedownloadet, die mir den Weg zeigte. Ich war auf sie angewiesen, ich vertraute ihnen. Also rannte ich wieder los, dort hinten waren sie, Gott sei Dank.

Auf dem Gipfel machten wir ein paar Fotos, wir hockten in einer Kuhle zusammen, um uns vor dem strömenden Wind zu schützen. Dann gingen wir zurück, es war fast schwarz als wir das Auto erreichten. It was a pleasure, sagte ich, und sie winkten. Als ich heimkam, fiel die Anspannung von mir ab, es war eine solche, die sich für in der Stadt aufgewachsene Menschen auf natürliche Weise einschleicht, wenn Aktivitäten weit außerhalb des Komforts, und vor allem, dem Komfort der eigenen vier Wände, die man in den letzten anderthalb Jahren kaum verlassen hat, getätigt werden. Die Anstrengung des Aufstiegs. Die dichte Nebelwand. Die fehlende Orientierung. Die untergehende Sonne. Ich liebte es, aber es machte mir auch Angst, und das hasste ich, weil es daran so ersichtlich wird, dass ich ein Stadtmensch bin, dass mich die Stadt geformt und durch ihren Komfort von der Natur getrennt hat. Es ist unnatürlich für einen Menschen wie mich, dass ich plötzlich an einem Ort lebe, an dem die Eigenheiten und Gefahren einer unbezwingbaren Natürlichkeit gelten, im Kontrast zu all dem Künstlichen in der Stadt.

Wie absurd es jedoch ist, dass in der Stadt gänzlich andere Ängste aktiv werden, vor dem vielen Verkehr, den vielen Menschen, dem vielen Druck, zu leisten, alles unter einen Hut zu bekommen, Versagensängste, verfehlte Träume, all das Verkehrte, das so viele Menschen in der Stadt zur Schau tragen. All das Kopfschütteln.

Ich klappte noch ein Buch auf, Knausgårds neu aufgelegter Debütroman, er enttäuschte mich, es wirkte, wie es war, ein Knausgård in seinen Anfängen. Doch dass ich las, rief den Stolz vom Morgen zurück, hier würde ich kein Netflix schauen, nicht stundenlang durch den Feed scrollen, hier würde ich lesen, das einzige auf der Welt, dass mich meinem instinktiven Begehren nach der Schriftstellerei näher bringt. Nur durchs Lesen kann ich selbst ein besserer Schriftsteller werden, und wo wenn nicht hier lässt sich die Ruhe finden, die zum Lesen benötigt wird. Kein Mensch vor dem Fenster, kein Auto auf der Straße, nur das ASMR des Fjords – sanfte Wellen, Hecken voller Vögel, der Fluss.

Ich melde mich wieder. Danke fürs Dabeisein.

7 Kommentare

  1. Habe auch gerade einen Artikel über Norwegen auf meinen Blog gestellt – von einer Rosenheimer Seelsorgerin. Mein Fazit: ein faszinierendes Land und gerade die Stille im hohen Norden lädt dazu ein, sich eine Auszeit vom Alltag zu nehmen.

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    1. Schön zu wissen, dass du diese Erfahrung auch gemacht hast – dann habe ich eine Frage an dich: Was passiert nach der Auszeit? Wozu die Auszeit, was ist der Effekt, langfristig? Ich versuche zu verstehen, ob der Effekt nicht gegenteilig ist, dass wir nach der Rückkehr, denn eine Auszeit besagt, dass wir zurückkehren, nur umso stärker die Sehnsucht nach dem Schönen erleben, und noch stärker den Kontrast zwischen hier und da empfinden. Und das, glaube ich, kann ebenso unschön sein…

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