Ein ganz normaler Monat in Norwegen (Teil 2)

Nach einer Woche erwachte ich mit einem zitternden Körper. Ich hatte übertrieben. Drei Wanderungen, immer fünfzehn, zwanzig Kilometer, viermal joggen, im Fjord schwimmen und mit dem Kayak raus, in so wenigen Tagen. Ich rannte, wanderte und schwamm, als hing mein Leben davon ab, oder dass des Fjords, als würde sein Untergang bevorstehen, wenn ich nicht schnell genug rennen, nicht hoch genug wandern, nicht weit genug schwimmen würde. Als hinge ein Datum im Raum, an dem die Felswände kollabieren, ins Meer fallen und einen Tsunami auslösen, der das Tal überschwemmt. Die Farmhäuser mitreißt, die Kühe, das fruchtbare Land. Die Traditionen, Familiengeschichten, all das Nichterzählte.

Viele Jahre später würde jemand mit dem Namen Jonna oder Ragnar oder Einar im zerstörten Fjord umherlaufen und einen Bilderrahmen finden. War es etwa die Familie Jørensen? Natürlich, Eskil, Gunvar, die liebe Ingvelde, und der Hund, wie hieß sie noch, Donna, ja genau. Alle beisammen, das Bild sepia, der Rahmen von Tang befleckt.

Es gab diese Welle, in den Dreißigerjahren, sie zerstörte Häuser und es gab Verletzte, doch wurde auch ein Tourist in Mitleidenschaft gezogen? Einer, der sich sagte, ich verbringe den Sommer in einem norwegischen Fjord, weit weg von allem, das Abenteuer ruft. Working remotely bedeutete für ihn, und gerade für ihn, der mit begabten Händen und einer kräftig ausgewachsenen Muskulatur ausgestattet war, dass er auf jedem Bauernhof der Welt arbeiten könnte, seine Arbeit würde überall geschätzt werden. Er ackerte und schaufelte, er verausgabte sich völlig, und an seinen freien Tagen ging er wandern, er schoss Wild, rammte Hölzer in den Boden, um den Weg zu markieren, beobachtete mit dem Fernrohr, ein Geschenk seines Großvaters, die allmächtigen Steinadler. Er stand auf dem Gipfel und sah hinab, ein ohrenbetäubender Lärm erklang, ein Stück des Berges brach herab und fiel ins Meer.

Zwei Tage später hatte ich mich erholt. Die Zeit verbrachte ich drinnen. Wenn ich nicht arbeitete, las ich, wenn ich nicht las, ließ ich Musik über mich ergehen und ließ alles zu, was in den Gedanken vor- und zurückgespult wurde.

Morgens auf dem Balkon, schräg gegenüber das Elternhaus der Familie Frafjord. Einhundert Menschen leben hier, die meisten sind Nachkommen einer vorangegangen Generation, sie alle besitzen diese riesengroßen Hütten, mit Glasfassade zum Meer, dort drüben, das ist das Haus von meinem Sohn, und daneben, das Haus von meinem Schwiegersohn, da hinten, meine Tante, und das Grundstück mit dem Farmhaus und den vielen Kühen, das ist von meinem Vater, er ackert auch heute noch, früh morgens steht er da mit seinem Gehstock und geleitet die Kühe auf ein anderes Feld, wo sie ein paar wenige Jahre grasen können, ehe sie geschlachtet werden.

Die Kaffeetasse fest umklammert, beobachtete ich die aufgehende Sonne, wie sie am Gipfelhang entlang wanderte, ein paar Wochen noch, dann wird sie es nicht mehr über die Bergspitzen schaffen, ein Fjord im Dunkeln, sechs lange Wintermonate. Ich beobachtete die Vögel in den Hecken, dort nisteten sie sich ein, zu hunderten, mochten sie Aronia, die vielen Beeren, von denen sie naschten. Schräg gegenüber ein gelbes Holzhaus, es mochte uralt sein, so wie ihre Bewohner, ein Mann mit Mütze, eine Frau mit langem Rock, sie saßen auf der Veranda und starrten in die Leere, während der kleine süße Mähroboter den Rasen instand hielt und in Blätterhaufen versteckte Igel zerschredderte.

Manchmal fragte ich mich, was diese alten Menschen dachten, wie sie dasitzen und einen Raum beobachten, in dem nichts ist, es war nicht so, dass sie ständig ihre Perspektive wechselten, sie schauten nicht die Berge hinauf, nicht zu den zwitschernden Vögeln in den Hecken, nicht auf die sich im Wind wiegenden Rosen. Sie starrten ins Nichts, also musste etwas anderes geschehen, hinter dem Blick. Ein Abenteuer vielleicht, damals im Jahr 1958, erstmals zur Trolltunga, zehn Stunden Fahrt mit der großen Liebe, das war schon toll. Oder war es wie bei einem Baby, unentwickelte Gedanken, pures Existieren, ein nur marginal lebhaftes Objekt an einem Ort, den bald der älteste Sohn an reiche Südnorweger verkaufen wird, oder an einen Touristen wie mich, der so voller Faszination und naiver Leidenschaft für den Fjord ist, dass er das Leben in seiner Heimat zurücklässt und neu anfängt, hier, mit einem Remote Job.

Könnte ich das?

Nein. Nein, oder?

Ich schmunzelte, ich hatte nichts mit diesen Menschen gemeinsam, gewissermaßen würde ich einen Monat lang ihre Berge, ihr Meer, ihre Felder, Flüsse und ihre Sonne ausbeuten und dann zurück in mein eigentliches Leben gehen, zurück in die Welt der Staus und Überstunden, der Familiendramen und Besäufnisse, des Drecks und Konglomerats aus Industrieabgasen, Nachbarküchen und Geschrei.

Vier Wochen hatte ich, um den Fjord auszubeuten, mich mit Glücksgefühlen bis zum Rand vollzustopfen, um möglichst lange im eigentlichen Leben davon zu zehren, sprich, im besten Fall bis zum nächsten Urlaub, wobei, sind wir ehrlich, es reicht meist gerade einmal bis zur Hälfte der Zeit, und schon hängt man wieder in den Seilen, eine ungerade Sitzhaltung, Schmerzen im Nacken, was mache ich hier eigentlich. Vier Wochen, working remotely. Eine Abmachung mit dem Arbeitgeber, war es compliant, ja, das dachte ich, ich musste nur zusehen, dass die vier Wochen eingehalten werden, aus steuerlichen Gründen, die wiederum eine Abmachung mit der modernen Welt sind, wehe dir, der du über die Landesgrenze deines Reisepasses trittst und für länger als vier Wochen dort arbeitest, weißt du nicht, wo du hingehörst, steck dein Gehalt gefälligst zurück in unsere Economy, und solltest du länger bleiben, werden wir dich zahlen lassen.

Plötzlich stand der alte Mann auf, eine gemächliche Bewegung, sanft und tonlos. Er ging hinein. Seine Frau regte sich nicht. Genießt sie, oder ist sie tot, fragte ich mich und schlürfte den letzten Rest vom Kaffee aus. Aus Deutschland habe ich Hafermilch mitgebracht, für Kaffee und Müsli, vier Pakete, ich wusste nicht, ob die norwegischen Supermärkte auf vegane Essensgewohnheiten eingingen, und das taten sie nicht, zumindest außerhalb der großen Städte nicht, also aß ich wieder Käse auf dem Brot, aber Hafermilch, die hatten sie. Oatly, dieser einst sympathische Frischling unter den Giganten der Milchindustrie, der dann von genau einem solchen geschluckt wurde; der vegane Markt, ein Milliardenmarkt, ganz gleich, wie rein und naturbelassen dein Marketingkonzept ist, ganz gleich, wie keck und frech deine Copywriter die großen Player auf Outdoorleinwänden beschimpfen, wenn du mit deinem veganen Ersatzprodukt in den Markt prescht und es großziehst, winkt das Monopol mit Geldscheinen, und plötzlich ist deine angestrebte Weltverbesserung dahin, du verkaufst dein Startup, denn Bro, dann haben wir ausgedient!

Ein paar Tage lang fühlt sich deine Welt schön an, der Deal ist über die Bühne gegangen und du bist jetzt verdammt reich, bis du Instagram öffnest und dir der aufgeklärte Konsument Hassbotschaften zusendet, hypocrite, sagen sie, du kapitalistischer Verräter. Für den Bruchteil einer Sekunde entstand die Hoffnung in mir, dass es in diesem Fjord keinen Kapitalismus gibt, dass ich früh morgens aufs Feld gehe, Kartoffeln pflücke und gegen einen Kilo Tofu eintauschen kann, ein schöner Gedanke. Am Abend würde ich im Supermarkt 48 Euro ausgeben, für zwei Smoothies, Brokkoli, Kartoffeln, Wraps, Dosenmais, Erdnussbutter und ein Sixpack Bier, das von Heineken, cool, dass sie das hier hatten.

Nein, ich hatte nichts mit ihnen gemeinsam. Das, was für sie normal war, war für mich Anlass, in den sozialen Netzen zu prahlen. Ihre Berge. Ihr Meer. Das frühe Aufstehen. Ich war falsch, das wusste ich, falsch für diesen Ort. Die Nachbarstochter mähte eines Abends die Hecken an der Straße, sie war jung und zierlich, sie hielt dieses schwere Gerät in den Händen, das ich nicht einmal benennen konnte, und hievte das Gras auf den Anhänger. Damit fuhr sie zum Hof zurück und gab es den Kühen zum Fressen. Ich folgte ihr, lief hinter dem Farmhaus her bis zum Stall, wo sie ackerte, und sie erschrak, als ich hinter ihr stand und rief. Ich wollte nur einmal Hallo sagen, sagte ich, und sie nickte. Ob sie hier lebt, fragte ich, ja, das tat sie. Ob sie den Bauernhof von ihren Eltern übernommen hat, fragte ich, nein, das machte sie nur zum Spaß, sie arbeitet im Nachbarort, in einer Fabrik, in der Steine hergestellt werden. Ihr stellt Steine her, fragte ich, ja, wir brechen sie vom Berg ab und zerkleinern sie, damit werden die Ölpipelines im Meer beschüttet. Und die Kühe, für die Milch? Nein, siehst du die Farm dort drüben, die machen Milch. Und ihr, fragte ich, sie lächelte. Wir machen nur Fleisch.

Ich bewunderte sie, sie packte an, sie kannte sich mit den Geräten aus, sie hatte ihren eigenen Traktor, den sie reparierte, sie ging zum Angeln hinaus, sie schlug Holz, sie strich Wände und ebnete den Boden, sie wusste, was sie tat, und kümmerte sich nicht um um den Dreck im Gesicht, es interessierte sie nicht, dass da ein wohl gekleideter Tourist stand, und sie im Arbeitsoverall. Oder dachte sie, oh, wie unangenehm? Bestimmt nicht, sie interessierte sich nicht dafür, auch nicht für die Konversation. Ich muss weitermachen, sagte sie, und ich sagte, bis dann. Da hatte sie schon wieder die Ohrenschützer aufgesetzt und wendete sich den Kühen zu. Ihre großen Augen. Ihre rosafarbenen Nasen. Ihr schwarzes Fell. 

Wir machen nur Fleisch.

So war es immer schon. Sobald ich fort sein würde, war es, als wäre ich gar nicht hier gewesen. Neue Touristen mieten das Airbnb, manche bleiben für sich, manche wollen Freundschaften im Fjord schließen, alle werden vergessen. Der Winter kommt, er bringt den Sturm, übersprudelnde Wasserfälle, große Wellen, zugeschneite Zufahrten, dann der Frühling, die Sonne taucht auf, ahhhhh, das Leben schüttelt sich, das Stumpfe, das Bittere erwärmt sich, der Sommer ist wieder da, ein Bad im Fjord, herrlich.

Während ich in den Städten dieser Welt sein werde. In Büros und im Auto, vielleicht werde ich mir ein neues zulegen, es ist der Zwang, sich profilieren zu müssen, und schafft es irgendwer, mit steigendem Gehalt dieser Sehnsucht nach sozialem Status zu entgehen? Im Fjord sind alle gleich, Bauern, Arbeiter, alle haben dieselbe Hütte, alle haben ihre Tiere, und schießt einer einen Elch, wird das Fleisch auf den Ort aufgeteilt, jeder bekommt zu gleichen Teilen etwas ab. Während wir Stadtmenschen uns überwinden müssen, 25 Euro nach Afghanistan zu spenden, das sollte reichen, jetzt aber los, der Supermarkt macht gleich zu.

Ihr seht, die Gedanken, sie sind losgerissen, ihre Distanz zu der eigentlichen Welt, meiner eigentlichen Welt, lässt eine banale Perspektive entstehen. Was wir auch machen, es macht keinen Sinn. Es ist das Kopfschütteln, von dem ich in meinem letzten Beitrag sprach.

Gleich gehe ich wieder wandern. Zu allen Seiten die Natur. Ich kann dorthin gehen, und dorthin, nach links, rechts, geradeaus, überall hin, wo ich sein will. Ich kann überall hin. Die Gedanken bedanken sich, nach einigen Kilometern durch die Wildnis sind sie fort.

3 Kommentare

  1. das licht in deinem video ❤ deine bilder.. und die gedanken.. ich weiß nicht, ich denke dazu irgendwie sowas wie "die unendliche sinnlosigkeit des seins"… wertfrei, so seltsam das klingen mag.

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